Tambara. Heike M. Major
Seite des Saales entdeckte Soul plötzlich drei bekannte Gesichter. Die Männer, die auf der Modenschau durch ihr Fliegenexperiment das Publikum in Aufruhr versetzt hatten, standen am Eingang und hielten nach freien Plätzen Ausschau. Sie wirkten auch jetzt wie eine eingeschworene Gemeinschaft, durchquerten den Saal als geschlossene Gruppe und wählten einen Tisch ganz in der Nähe der Geschwister aus. Es dauerte einige Zeit, bis sie die Stühle zurechtgerückt und sich niedergelassen hatten. Mit Bedacht ordneten sie ihre Kleidung, zupften Kragen und Manschetten zurecht und zogen die Hemdsärmel glatt. Schweigend wandten sie sich anschließend der Speisekarte zu. Als der Freund des Fliegenentführers – Soul war mittlerweile klar, dass dieser das Insekt niemals rechtmäßig erworben haben konnte, wahrscheinlich hatte er es aus einem der Naturreservate entwendet – auf die Symbole in der Tischplatte drückte, schoben sich unter dem überlangen Ärmel seines Anzuges ungewöhnlich glatte und helle Finger hervor. Hatte er zu viel Handcreme benutzt? Soul kannte den Effekt aus eigener Erfahrung. Die modernen Schutzcremes schmiegten sich so elegant und geschmeidig um die natürliche Haut, dass manche Zeitgenossen des Guten zu viel taten und durch einen besonders dicken Auftrag dieses rein synthetischen Produktes eine Art Handschuh formten. Da die Schicht luftdurchlässig war, schadete sie der Haut nicht, wirkte aber auf empfindsame Gemüter immer ein wenig unnatürlich. Ein Lichtstrahl verfing sich am Daumen des Mannes und brachte den Nagel zum Glänzen.
Das Menü wurde serviert, und während Soul den Reis verspeiste, wanderte ihr Blick immer wieder zu der Männergruppe am Nachbartisch hinüber. Die drei aßen stumm und bemühten sich in besonderer Weise, jede ihrer Bewegungen zu kontrollieren. Plötzlich rutschte dem Freund des Fliegenentführers das Messer aus der Hand. Laut scheppernd fiel es zu Boden. Die Besucher des Restaurants blickten verärgert zu dem Störenfried hinüber. Der Mann murmelte eine Entschuldigung und wartete, bis sich die Gäste wieder ihrer Mahlzeit zuwandten. Als er sich endlich nach dem Besteckteil bückte, glaubte Soul ihren Augen nicht zu trauen. Unter dem nach oben gerutschten Ärmel kam eine Prothese zum Vorschein, eine jener halb beweglichen Kunststoffgliedmaßen, wie man sie in früheren Jahrhunderten zu tragen pflegte, als noch keine nachwachsenden Extremitäten aus dem Labor zur Verfügung standen.
„Guck dir das an!“, stieß Soul hervor und stupste ihren Bruder an.
Reb blickte auf und erblasste.
„Lass dir nichts anmerken“, murmelte er aufgeschreckt. „Iss einfach weiter.“
Unfreiwillig in das Geheimnis ihrer Tischnachbarn eingeweiht, hatten die Geschwister nun selbst einige Mühe, sich auf die Mahlzeit zu konzentrieren. Nur wenige Minuten vergingen, da erschienen die Sicherheitskräfte des Medienkonzerns, und an ihren forschenden Blicken, mit denen sie die Umgebung taxierten, konnten Reb und Soul erkennen, dass sie nicht zum Vergnügen gekommen waren. Die Männer von der Modenschau bemühten sich krampfhaft, den Anschein von Normalität zu wahren, doch es war offensichtlich, dass sie unter einem großen Druck standen. Das Paar hatte sie auch bereits ins Auge gefasst, und während die Frau noch mit ihrem Kollegen sprach, beobachtete sie jede Bewegung der drei auf das Genaueste. Der Mann mit der Prothese wurde zusehends unsicherer. Verzweifelt versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen, was schließlich dazu führte, dass er die Kontrolle über seine Gliedmaßen vollends verlor. Beim Zerschneiden eines Stückes Fleisch rutschte sein Messer auf dem glatten Tellerboden aus und flog in hohem Bogen in die Umgebung hinaus. Entsetzt blickte er zu den Sicherheitskräften hinüber, und als diese sich in Bewegung setzten und auf ihn zusteuerten, verlor er die Beherrschung, sprang auf und rannte quer durch den Saal davon. Das Paar reagierte schnell und erwischte ihn, noch bevor er den Ausgang erreicht hatte. In aller Öffentlichkeit wurde er verhaftet.
Die Freunde des Festgenommenen wirkten sichtlich geschockt und setzten, nachdem sie eine Zeit lang auf die leere Eingangstür gestarrt hatten, betroffen ihr Mahl fort.
Soul hätte zu gern gewusst, was sich hinter dieser merkwürdigen Verhaftung verbarg. Immer wieder wanderte ihr Blick zu den beiden Männern hinüber, die sich augenscheinlich sehr bemühten, nicht noch mehr aufzufallen.
„Und wenn ich sie einfach frage …?“
„Untersteh’ dich!“, mahnte Reb. „Willst du dir auch noch Ärger einhandeln?“
Ungeduldig rutschte Soul auf ihrem Stuhl hin und her. Noch nie zuvor war sie so nah an eine dieser seltsamen Ungereimtheiten herangekommen, die den Alltag der Stadt Tambara wie selbstverständlich begleiteten. Ein paar Minuten hielt sie es aus, dann huschte sie hinüber und setzte sich einfach auf den frei gewordenen Stuhl.
„Und?“, fragte Reb ungeduldig, als sie zurückkam. „Was hat er ausgefressen?“
Soul war sichtlich erregt.
„Sie meinten, das Einzige, was ihn von seinen Mitbürgern unterschiede, wäre seine körperliche Unvollkommenheit.“
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