"Rosen für den Mörder". Johannes Sachslehner
Wilna zurückgekehrt. Sie waren durch die Schüsse nur verletzt worden, hatten sich totgestellt und konnten aus der Grube entkommen. Ihr Bericht stößt bei den Ghettoinsassen zunächst auf ungläubiges Erstaunen, viele wollen es nicht wahrhaben, dass die „Kulturnation“ Deutschland zu einem derartigen Verbrechen fähig sei. Die Nachricht vom Massaker in Ponary gelangt auch zu Herman Kruk, der sie kaum fassen kann und in seinem Tagebuch notiert: „Diese entsetzliche Sache ist schwer zu beschreiben. Die Hand zittert, die Tinte ist blutig. Ist es möglich, dass alle, die man von hier weggebracht hat, in Ponary ermordet wurden, erschossen?“ Dann hält Herman Kruk den Bericht der kleinen Judyta Trojak in seinem Togbukh fest: „Was erzählt Judyta Trojak? Von der ganzen Familie – Mutter, Vater, drei Jungen und zwei Mädchen – sind nur unsere Erzählerin Judyta und ihr Vater übrig, der im Torf in Riese arbeitet. Und ein Bruder floh mit den Bolschewisten. Was ist geschehen?
Am Sonntag, dem 1. September, gab es einen Tumult. Worin der Tumult bestand, weiß sie nicht, sie weiß nur, dass man über Ereignisse auf der Glezerstraße redete. Am nächsten Morgen erfährt sie, dass man nicht weit von ihrer Wohnung entfernt viele Leute mitgenommen habe; alle hätten sich bei einem Nachbarn getroffen und jeder habe Neuigkeiten über das Geschehene mitgebracht. Um acht Uhr morgens tauchten plötzlich Litauer auf und befahlen sich anzuziehen und in den Hof zu gehen. Dort stellte man sie in Reihen auf. Die Hausmeister nahmen alle Wohnungsschlüssel an sich und dann führte man sie ins Gefängnis. Im Gefängnis blieben wir von Montag bis Dienstag. Dienstag früh hat man uns alle in den Gefängnishof geführt, und wir waren alle sicher, dass wir freigelassen würden. Aber es wurde angeordnet, alle unsere Sachen zurückzulassen und die wartenden Lastwagen zu besteigen. Während wir in den geschlossenen Lastwagen fuhren, sah eine Frau, dass wir an einem Wald vorbeifahren. Später haben wir eine Schießerei gehört. Wehklagen begann. Wir haben nicht verstanden, was mit den Männern geschah, denn sie wurden zu Fuß weggeführt. Als wir aus den Lastwagen stiegen, hat man uns in einen Wald abgeführt, zwischen Sandhügel, und dort haben wir gewartet. (…) Den ganzen Tag hörte man das Schießen. Es gab einigen Streit. Menschen haben geweint. Erst um fünf Uhr nachmittags hat man zehn von uns weggeführt. Von dort sind wir etwa fünf Minuten gegangen. Man hat uns dort die Augen verbunden und vor eine Grube gestellt. (…) Ich habe das Tuch so angelegt, dass ich sehen konnte. Da in der Grube sind viele Tote gelegen, ein ganzer Berg.“ (Herman Kruk, The Last Days of the Jerusalem of Lithuania, zitiert nach Christoph Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen.) Judyta Troyak wird von einer Kugel am linken Arm getroffen, eine ebenfalls verwundete Frau schleppt sie aus der Grube, die Nacht verbringen die beiden auf einem litauischen Bauernhof, die Bäuerin führt sie am nächsten Tag zurück in die Stadt, wo Judyta im Jüdischen Spital operiert wird. Unter den behandelnden Ärzten ist auch Dr. Avraham Weinryb, der die Infektionsabteilung des Ghettokrankenhauses leiten wird – er ruft den jungen Aktivisten Abba Kovner ins Spital, um sich die Erzählung des Mädchens anzuhören.
Trotz dieser ersten Augenzeugenberichte von Überlebenden bleiben bei der in Wilna verbliebenen jüdischen Bevölkerung Zweifel – man weigert sich, das Ungeheuerliche zu glauben, dazu kommt, dass die deutsche Verwaltung den Massenmord geschickt verschleiert. Sie spricht in ihrer Korrespondenz offiziell von einem „Lager Ponar“, gefälschte „Dokumente“, die man im September der neu geschaffenen jüdischen Polizei und ihrem Chef Jakob Gens zuspielt, sollen die Illusion schüren, dass im Wald von Ponary tatsächlich ein „Ghetto Nr. III“ existiert. Die jüdische Polizeiführung und auch der Judenrat sind bestrebt, die Augenzeugenberichte geheim zu halten, wie die Überlebende Pnina Arkian bestätigt, der es im Oktober 1941 gelingt, einem Massaker in Ponary zu entkommen: „Als ich zurück ins Ghetto kam, sah mich die jüdische Polizei und ließ mich bei ihr eintreten. Dann fragte mich einer: ‚Wo bist du gewesen?‘, und ich sagte: ‚Ponary …‘ Als ich nach Hause kam, erzählte ich meiner Mutter nicht, was ich erlebt hatte … Nur zehn Minuten waren vergangen, dann kam die jüdische Polizei … Sie brachten mich zu Gens … Er fragte mich: ‚Wo warst du?‘ Ich erzählte ihm alles, was ich erlebt hatte, wie wir mitgenommen wurden und wie es mir gelang zu entkommen. Er fragte mich: Willst du, dass deine Eltern und deine Familie leben? Dann erzähle kein Wort von dem, was du gesehen hast. Ich helfe dir, Arbeit zu bekommen, aber halte einfach still. Du hast nichts gesehen und nichts gehört.‘ Ich versprach es ihm … und habe mein Versprechen gehalten.“ (Yad Vashem Archives, 0-3/2048, zitiert nach Yitzhak Arad, Ghetto in Flames.)
Die nächsten großen Massenexekutionen in Ponary finden am 12. und 17. September 1941 statt, jetzt bringt man auch die Juden aus dem Lukiškes-Gefängnis nach Ponary.
Auch für diese beiden Tage hält der „Jäger-Bericht“ mit bürokratischer Akribie die Mordzahlen für Wilna fest: Liquidiert werden am 12. September 993 Männer, 1670 Frauen und 771 Kinder, in Summe 3334 Personen. Am 17. September tötet man 1271 Menschen: 337 Männer, 687 Frauen und 247 Kinder.
Kazimierz Sakowicz, der heimliche Beobachter auf dem Dachboden, notiert zum 12. September lakonisch: „Wieder wurden circa 2000 erschossen” und liegt mit dieser Schätzung viel zu niedrig …
Das Mahnmal für die in Ponary ermordeten Juden.
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