Hegel. 100 Seiten. Dietmar Dath

Hegel. 100 Seiten - Dietmar  Dath


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Naturwissenschaften oder anderer exakter Arbeit. Mein eigener Weg hat mich mangels nötiger Begabung woanders hingeführt. Aber die Neugier darauf und das Interesse daran, was diese Menschen beschäftigt, kann ich mir nicht abgewöhnen. So erfuhr ich davon, dass es einen Mann gibt, der einerseits zu den hellsten Köpfen der mathematischen und metamathematischen Forschung unserer Epoche gehört und andererseits Hegel den größten Respekt bezeugt, und zwar nicht in Sonntagsreden, die der philosophischen Fakultät schöne Augen machen, sondern in der Praxis. Ich meine Francis William Lawvere, der seit den 1960er Jahren wichtige Fortschritte zu mehr Klarheit über Verbindungen zwischen früher nur isoliert betrachteten Teilbereichen mathematischen Wissens ermöglicht hat. Die Loyalität, die Lawvere an seinen Lehrer Hegel bindet, ist so unumstritten, dass der Theoriehistoriker Ralf Krömer in seiner Abhandlung über die Geschichte bedeutender Teile der Gegenwartsmathematik Tool and Object (2007) von »Lawveres Hegelianismus« schreiben kann. Und Krömers russischer Kollege Andrei Rodin breitet im Traktat Axiomatic Method and Category Theory (2012) sogar ein ganzes, Lawveres Arbeit erläuterndes Kapitel über »Categorical Logic and Hegelian Dialectics« aus.

      Was hat Hegel in der Metamathematik verloren? Ich werde auf diese bemerkenswerte Verbindung zwischen mathematischem Verstand einerseits und spekulativer Vernunft andererseits im Schlusskapitel dieses Büchleins noch zu sprechen kommen. Hier will ich nur festhalten, dass sie mir, als ich von ihr erfuhr, zunächst ein großes Rätsel war. Bei diesem Rätsel blieb es aber nicht, denn bald danach brachte man mir den Umstand zur Kenntnis, dass im Netz von mathematisch orientierten Fachleuten eifrig diskutiert wurde, ob und gegebenenfalls in welcher Weise das »Univalenzaxiom« des russisch-amerikanischen Mathematikers Wladimir Wojewodski sich auf Hegels schockierendes Begriffsbild der »Identität von Identität und Nichtindentität« beziehen ließ.

      Wojewodski hatte in Gestalt einer schwierigen Lehre namens »Homotopietypentheorie« ein Unternehmen lanciert, das die zunehmende Computerabhängigkeit der mathematischen Beweisarbeit auf eine Grundlage stellen sollte, die Maschinen und Menschen gleichermaßen gut handhaben konnten. Der Schlüssel dazu sollte ein Axiom sein, das zwischen zwei Beziehungen von Größen eine Metabeziehung festlegte, die besagt »(A ist gleich B) ist äquivalent zu (A ist äquivalent zu B)«, ein Trick, aus dem, wenn man die komplizierten Implikationen mathematischer Äquivalenz- und Gleichheitsdefinitionen darauf anwendet, eine völlig neue Sicht darauf folgt, was das Zeichen »=« bedeutet, soll sagen: was man damit machen kann. Das Manöver ähnelt Hegels Satz davon, dass Identität zwischen Identität und Nichtidentität bestehe, vor allem darin, dass Hegel seinerzeit, wie in unserer Ära der Mathematiker Wojewodski, ein Hierarchieproblem unter Begriffen lösen wollte.

      »Identität« war in einer Auseinandersetzung zwischen Hegels Kollegen Fichte und Schelling ein Wort, das mit dem Verständnis des Begriffs »Subjekt« zusammenhing, insbesondere mit dessen Vermögen, zu tun und zu denken, was es tut und denkt, ohne sich so sehr zu verändern, dass es nicht mehr dasselbe bleibt, also nicht mehr mit sich identisch ist. Bis heute gibt es verschiedene Deutungen des Subjektbegriffs im Deutschen Idealismus, je nach dessen verschiedenen Quellen.

      Adorno und Robert Brandom halten bei ihren Deutungen jener Debatte dafür, deren »Subjekt« sei »die Gesellschaft«. Dass man da überhaupt etwas deuten muss, dass die Begriffe nicht einfach fix sind, dass sie sich in der Arbeit mit ihnen wandeln, verbindet den Deutschen Idealismus aber gerade in seiner dunkelsten Tiefe mit der Mathematik, in der die Bedeutung eines Wortes wie »Parallelen« oder einer Wendung wie »kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten« davon abhängt, welchen Raum man sich denkt, von wo nach wohin man darin will und so weiter.

      Je mehr ich nun las und lernte, desto unerwartete Beziehungen zwischen Hegel und der ganzen übrigen Welt des Denkens ergaben sich. Das reichte vom exzentrischen Verfechter einer mehrwertigen (also nicht nur entweder-wahr-oder-falsch, sondern mehr) Wahrheitslehre Gotthard Günther, der Grundzüge einer neuen Theorie des Denkens in Hegels Logik (1933) gefunden haben wollte, bis zum »Vater der modernen japanischen Philosophie« Kitaro Nishida, dessen Denken Hegel in explizit dialektischen Grundmotiven tief verpflichtet ist.

      Ich konnte Hegel nicht auf sich beruhen lassen, fand aber vieles bei ihm nach wie vor unzugänglich, nicht nur den naturwissenschaftlichen Unfug, sondern auch Passagen über seinen eigentlichen Gegenstand, die Entwicklung von Verstand und Vernunft in der Geschichte. Wie sollte ich zum Beispiel den in meiner schließlich ganz zerlesenen, mit Anmerkungen und Fragezeichen verunzierten Phänomenologie des Geistes präsentierten Gedanken begreifen, der Inhalt religiöser Vorstellungen sei »der absolute Geist«?

      Es sei, stand da, wo dies behauptet wurde,

      um das Aufheben dieser bloßen Form zu tun, oder vielmehr weil sie dem Bewusstsein als solchem angehört, muss ihre Wahrheit schon in den Gestaltungen desselben sich ergeben haben. – Diese Überwindung des Gegenstandes des Bewusstseins ist nicht als das einseitige zu nehmen, dass er sich als in das Selbst zurückkehrend zeigte, sondern bestimmter so, dass er sowohl als solcher sich ihm als verschwindend darstellte, als noch vielmehr, dass die Entäußerung des Selbstbewusstseins es ist, welche die Dingheit setzt, und dass diese Entäußerung nicht nur negative, sondern positive Bedeutung, sie nicht nur für uns oder an sich, sondern für es selbst hat.10

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