Identität im Zwielicht. Jörg Scheller

Identität im Zwielicht - Jörg Scheller


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Islamisten, mehr noch, er führte die Spannungen in Frankreich auch auf das „Versagen der Republik“ zurück.12 Im Grunde können die Aussagen Anpalagans noch nicht einmal verifiziert werden, da der Autor nicht angab, wer gemeint ist. Er betrieb Identitätspolitik der raunenden Sorte, wie man sie auch im gegnerischen Lager, etwa beim jungliberalen Twitter-Rambo Ben Brechtken, findet: Die Welt wird in zwei diffuse Gruppen aufgeteilt und eine davon ist böse. Zeitangaben wie „immer“ und Kollektivsingulare, verpackt in Formulierungen à la „es geht nur darum“, verunmöglichen ein sinnvolles Gespräch. Ihre Funktion ist es, die eigenen Behauptungen gegen Einwände zu imprägnieren. Unabhängig von der jeweiligen politischen Haltung operiert eine solche instrumentelle Redeweise mit „Provokation und Allusion“, um ein „Double-Bind“ zu erschaffen: „… eine Situation, in der jede Handlung mit einer negativen Sanktion verbunden ist. Egal, was man tut, man kann nur verlieren. Oder zumindest lässt es der Double-Bind so aussehen. So wird der populistische Denker in jedem Fall bestätigt.“13

      Ziel dieses Essays ist es, die Debatten über Identitätspolitik auf eine nüchterne Basis zu stellen. Er vernünftelt bisweilen, ist von einem unheroischen Hang zum Kompromisslerischen durchzogen, gibt sich, selbst wenn er polemisch wird, versöhnlich – Konterrevolutionsverdacht! Die Polemik gilt dabei spezifischen Formen der Identitätspolitik, nicht dem Phantasma einer homogenen Identitätspolitik als solcher.

      Keine steilen Thesen, stattdessen Suche nach Konsens. Keine klientelistische Zuspitzung, stattdessen Abwägung. Keine ideologische Projektion, sondern möglichst genaues Hinschauen. Kein kulturkämpferisches Bashing von linker Political Correctness oder, umgekehrt, von rechtem Konservatismus, stattdessen Differenzierung und kritischer Pragmatismus. Und doch ist auch dieser Text von einer starken Emotion getragen, nämlich von Wut – von Wut auf Vulgarisierung, Ideologisierung, Polarisierung, Scheuklappendenken in unserer hybriden Medienlandschaft. Allein, es ist eine Wut zur Differenzierung.

      Ich möchte einen liberalen Zugang zur Identitätspolitik skizzieren; einen Zugang, der sich zwischen die Fronten begibt, anstatt sich in die Schützengräben zu ducken. Wenn es heute, neben materieller Ungleichheit, asymmetrischen Machtverhältnissen und kulturellen Hegemonien, eine echte Gefahr für die offene Gesellschaft gibt, dann ist es, wie der Journalist Rafael Behr richtig diagnostiziert, das „Verschwinden eines gemeinsamen öffentlichen Bezugssystems, in dem Ideen auf vernünftige Weise diskutiert werden können“14. Voraussetzung für ein solches Bezugssystem ist es, Identitäten nicht als geschlossene Systeme zu begreifen und Aussagen von Menschen nicht vorschnell auf unterstellte Identitätsinteressen zu reduzieren. Stattdessen sollte man auch nach Verbindendem und nach doppelten Böden suchen. Die Frage „Was unterscheidet die Erfahrungen eines prekär lebenden, schwarzen alten Mannes in Deutschland von den Erfahrungen einer reichen, weißen jungen Frau in Deutschland?“ ist zwar wichtig. Aber ebenso wichtig ist die Frage, was die beiden – und sei es nur potenziell – verbindet. Von einem bin ich überzeugt: Menschen tauschen sich nicht in einer prästabilierten „gemeinsamen Welt“ aus. Die gemeinsame Welt entsteht vielmehr erst durch Austausch.

      Menschen sind keine heiligen Texte, vermittels derer eine transzendente Macht eine unmissverständliche, nicht interpretationsbedürftige Botschaft sendet. Wenn man einen echten Zugang zu echten Menschen finden möchte, sollte man keinem Offenbarungsglauben anhängen. Vielmehr ist es ratsam, sich der historisch-kritischen Methode zu bedienen – so wird man, von Extremisten einmal abgesehen, unweigerlich auf Vielschichtigkeiten, Ambivalenzen, Widersprüche und damit auf Verbindungspunkte zwischen unterschiedlichen Haltungen und Lebenswegen stoßen. Der Literaturkritiker Ijoma Mangold bemerkte dazu 2018 in einer Fernsehsendung: „Es ist sehr schwer, über einen Menschen den Stab zu brechen, von dem Sie etwas wissen. So wie der Mensch anonym oder kollektiviert ist, können wir die härtesten Urteile über ihn aussprechen. Haben wir einmal mit ihm ein Bier getrunken, ist das schon sehr sehr viel schwieriger.“15 In der Gruppenidentität als Fremdzuschreibung, aber teils auch in der Selbstzuschreibung, passiert genau das: Ein Individuum wird kollektiviert und anonymisiert, es verschwindet hinter einem Begriff.

      Wer nun, von latenter Endgegnersehnsucht getrieben, einwendet: „Aber Hitler! Stalin! RAF! NSU! Rote Brigaden! Breivik! Wie könnte man da ambivalent bleiben! Da hilft doch wohl kein ‚Bier trinken‘!“, dem sei zweierlei entgegnet. Erstens gilt mit einer rechtswissenschaftlichen Maxime: „hard cases make bad law“. Gegen das ultimativ Böse zu sein, ist die leichteste Übung und dient primär der Selbstbeweihräucherung. In den Worten des Politologen Andreas Püttmann gilt für die ungleich herausforderndere Praxis: „1. Prävention bei Gefährdeten. 2. Bei ‚Angefixten‘ im Frühstadium: diskutieren, um jede Seele kämpfen. 3. Bei gefestigt Verhetzten: Trennen, Ausgrenzen.“16 Zweitens waren es gerade von monumentalen Ideen besoffene Menschen wie Hitler und Stalin, die Vielschichtigkeiten, Ambivalenzen, Widersprüche mit ihren mörderischen, kollektivistischen Identitätspolitiken zerstören wollten. Kein liberaler, menschenfreundlicher Geist sollte sich ihnen anverwandeln.

      Während ich dies schreibe, muss ich an Fritz Bauer denken, diesen wunderbar eigensinnigen, vom Geist der Liberalität – nicht des Liberalismus! – durchdrungenen Generalstaatsanwalt, der im Deutschland der Nachkriegszeit maßgeblich zur Festnahme Adolf Eichmanns und zur Durchführung der Auschwitz-Prozesse beitrug. Bauer hatte ein feines Gespür dafür, wer an konstruktiven Lösungen interessiert war und wer Zwietracht säen wollte, um selbst an die Macht zu kommen. So blickte er in seinem Vortrag Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns (1960) auf die Weimarer Republik zurück und stellte fest: „Die Parteien auf der äußersten Linken und Rechten – die Kommunisten und die Nazisten – wuchsen ständig, waren aber zu einem positiven und konstruktiven Mitwirken nicht bereit. Sie verstärkten mit Absicht das Chaos, um im Trüben zu fischen.“17 Hätte er dies heute auf Facebook geschrieben, hätte ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Schwarm identitärer Empörter als Hufeisentheoretiker, als Fürsprecher einer Gleichsetzung von Rechts- und Linksextremisten, diffamiert. Man hätte die Aussage einer Identität zugeordnet – „die Hufeisentheorie ist ein rechtes Narrativ!“ –, um sie zu disqualifizieren.

      Auch Bauers Differenzierung zwischen Nazismus (größtes Übel) und Faschismus (kleineres großes Übel) wäre dem Facebookschwarm wie eine Relativierung vorgekommen. Aber Bauers Punkt war ein anderer. Man könnte ihn wie folgt umreißen: Es gibt Menschen, die wollen Lösungen im Sinne dessen, was der Philosoph John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit (1971) „überlappenden Konsens“ nannte. Sie streben nach Gerechtigkeit in einer pluralen, offenen Gesellschaft, nicht nach Rache oder Genugtuung, nicht nach Durchsetzung ihrer partikularen Weltsicht, nicht nach Bestätigung einer Theorie oder Ideologie. Sie verabsolutieren ihre Haltungen und Erfahrungen nicht, sondern können und wollen sie mit den Erfahrungen anderer relationieren. Mit solchen Menschen lässt sich ein Staat machen. Und es gibt Menschen, die kämpfen gegen das aus ihrer Sicht Böse nur deshalb, weil sie ihre eigene Sicht und ihre eigene Version des Guten bestätigt sehen wollen. Mit diesen Menschen lässt sich zwar auch ein Staat machen. Allein, nur ein autoritärer.

      Vielsagend ist, dass man meinen liberalen Ansatz wiederum identitätspolitisch – also zirkulär – begründen könnte, nämlich als Spiegelbild meines Werdegangs. Wenn man so will, lebe ich ein Sowohl-als-auch-Leben zwischen den Schützengräben. Ich bin Wissenschaftler, Journalist, Kraftsportler, Musiker, Fitnesstrainer, Professor, Freiberufler, Schwabe, Wahlschweizer, Teilzeitpole, liberal, sozial, progressiv, konservativ. Die Kategorien „links“ und „rechts“ lehne ich für mich ab, weil sie zum einen eine simplistische binäre Ordnung des Politischen suggerieren und in der Realität nie in Reinform, sondern immer nur in Mischverhältnissen auftreten. Zum anderen, weil es eurozentrische, aus der Ära der französischen Revolution stammende Kategorien sind, für die es in vielen Weltgegenden keine Entsprechung gibt. Auch sollte nicht vergessen werden, dass es nach der französischen Revolution Jahrzehnte dauerte, bis Frankreich zur Demokratie wurde. Wer das Links-Rechts-Schema für unverzichtbar hält, kann ebensogut versuchen, sich von Dinosaurierfleisch zu ernähren.

      Konfliktlinien verlaufen nicht einfach zwischen „rechts“ und „links“. Sie verlaufen zwischen denen, die bereit sind, Grausamkeit und Ungerechtigkeit hinzunehmen, und denen, die nicht dazu bereit sind. Gerechtigkeit, und insbesondere Verfahrensgerechtigkeit,


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