Im Malstrom. Jürgen Petry

Im Malstrom - Jürgen Petry


Скачать книгу
XXIX

       XXX

       XXXI

       XXXII

       XXXIII

       XXXIV

       XXXV

       XXXVI

       XXXVII

       Prolog

       Dank

      Es war an einem Montag und wir fuhren nach Leipzig, um uns zum ersten Mal an einer Protestdemonstration zu beteiligen. Wir, das waren neun Kollegen aus unserem Wolfener Kombinat. Vier davon aus meiner Brigade „Stromschnelle“. Treffpunkt wäre die Nikolaikirche im Zentrum der Stadt, hatte man uns erzählt. Wir gingen dorthin. Die Kirche war etwa zur Hälfte gefüllt. Männer, meist jüngere, Frauen und Kinder in allen Altersstufen. Es war still. Der Pfarrer erhob sich und sprach ein kurzes Gebet. Wir saßen hinten. Trotzdem verstand ich jedes Wort. Wir waren noch erregt. Auf dem Weg zur Kirche waren wir an großen Gruppen Volkspolizei vorbei gekommen. Sie hielten sich in den Nebenstraßen auf. Zweimal hatten sie versucht, uns abzudrängen, aber recht lustlos. Dienst nach Vorschrift würde es heute heißen. Als wir ruhig aber fest auf unserer Absicht beharrten, durften wir passieren. Was wäre wenn …, dachte ich trotzdem! In der Kirche sah ich mich um. Ernst in den Gesichtern, Entschlossenheit auch. Ein Block junger Männer fiel mir auf. Man konnte erraten, welcher Passion sie angehörten, durch ihre unbehaglich wirkende Körpersprache. Dann marschierten wir los. Nicht alle folgten dem Zug. Demonstranten waren es etwa 500, vielleicht auch weniger. Einige mit Transparenten. „Keine Gewalt“ las ich auf mehreren. Unklar, ob das eine Mahnung zur Disziplin an die Demonstranten war oder ein Signal an die Gegenseite oder beides. Die Volkspolizisten bewegten sich langsam auf die Demonstranten zu, taten aber nichts. Doch sie waren präsent und deutlich in der Überzahl. Einige trugen Zivilkleidung. Schweigend setzte der Zug seinen Marsch fort. Ein paar verließen ihn, als sie das Polizeiaufgebot sahen. Die Mehrheit blieb. Am Hauptbahnhof wollte auch ich ausscheren. Ich zögerte aber und sah in die Gesichter meiner Kollegen. Plötzlich ein Lautsprecher: „Hier spricht die Deutsche Volkspolizei!“ Kurze Pause. Der Sprecher musste sich wohl erst konzentrieren. Doch bevor er mit seiner Ansage einsetzen konnte, schrie jemand: „Wir sind das Volk!“ Wieder eine kurze Pause. Überraschung! Dann griffen mehrere den Ruf auf: „Wir sind das Volk“, und dann plötzlich ein Ruf wie Donnerhall: „WIR SIND DAS VOLK.“ Mir laufen heute noch Schauer über den Rücken.

      So fing es an. Es war der Tag, an dem ich den Einstieg fand in das, was man heute die „Friedliche Revolution“ nennt. Wenn du meine ungeordneten Selbstbetrachtungen einmal in die Hand bekommen solltest, werde ich „die schönste aller Welten“, wie sie ein französischer Dichter, dessen Name mir leider entfallen ist, einst ironisch nannte, bereits verlassen haben. Es wäre eine Lüge, wollte ich behaupten, dass ich dem Unausweichlichen gelassen entgegen sehe. Nein, manchmal packt mich die Angst, dann wieder die Resignation, meist aber ist es nur eine unglaubliche Leere. Besonders wenn ich darüber nachdenke, was von den über siebzig Jahren, die ich auf dem Boden unseres teuren Vaterland zugebracht habe, aufzeichnungswürdig sein könnte. Viel ist es nicht. Nichts für andere, wenig für mich selbst. Doch das ist wohl nichts Besonderes. Ja, ich hatte mir noch manches vorgenommen. Es wird unerledigt bleiben! Kein Problem! Bedenke ich, was für Unfug, Eitelkeiten und Lügen heute täglich in die Welt gesetzt werden, dann, mein alter Freund, muss man dem nicht unbedingt noch etwas hinzufügen.

      Vor einigen Jahren habe ich begonnen, Tagebuch zu führen und Briefe zu schreiben, die ich niemals abschickte. Warum? Weil ich es für mich aufschrieb, was ich schreiben wollte. Du erinnerst dich, dass du mir das einmal vorgeschlagen hast? Der Gedanke gefiel mir damals. Heute auch noch. Deshalb habe ich tatsächlich irgendwann damit begonnen. Das war, als es mir schlecht ging. Später, rückblickend, habe ich dieses und jenes sogar ergänzt. Ich weiß, es war meine Flucht aus einer Welt, die mir immer unverständlicher wurde.

      Und jetzt, in Sichtweite meines Abschieds, trage ich alles zusammen. Nein, kein Buch, eher ein paar Aufzeichnungen für meine Selbstfindung, mehr ist es nicht, soll es auch nicht sein. Deshalb habe ich auch Jana nicht gebeten, dir die Geschichte meines Nachwendelebens zu übergeben. Doch sie wird es tun. Da bin ich fast sicher. Tut sie es nicht, ist es auch gut. Erledigt! Falls aber doch, dann betrachte das Aufgeschriebene bitte als Erbteil deines mehr oder weniger gescheiterten Freundes.

      Noch ein Wort zur Sprachlosigkeit. Eine Eigenschaft, die ich mit unserer letzten DDR-Regierung gemeinsam hatte. Sie in ihrer letzten Phase, ich in meiner ersten. Es steckt eben mehr in uns als Erinnerungen.

      Gedanken sofort in Sprache umzusetzen, ist mir nicht gegeben. Daher die Tagebücher und deshalb die nicht abgeschickten Briefe. Ja, sprechen wäre leichter gewesen und richtiger auch. Nur, mit wem hätte ich sprechen sollen, außer mit dir? Du aber warst nicht greifbar. Nicht, wenn ich gerade einmal reden wollte. Mit Jana, meiner Frau? Mit ihr hätte ich sprechen müssen. Selbstverständlich! Aber früher, viel früher, nicht erst, als wir uns fremd und fremder wurden. Und erst recht nicht, nachdem ich ein viertel Jahrhundert meine Gedanken dem Papier anvertraut hatte. Jetzt geht es nicht mehr. Mir bleibt nur das Papier.

      Hätte, könnte, würde! Wer spricht schon gern über das, was einen bedrückt? Ich konnte mich einfach nicht entschließen, das Maul aufzumachen, frei nach Martin Luther. Schreiben ist einfacher. Papier widerspricht nicht. Deshalb flüchtete ich in „mein Reich“, immer dann, wenn es kompliziert wurde. Und kompliziert war es eigentlich immer für mich. Deshalb blieb das Papier mein schweigender Beichtvater, nur das Papier. Ein viertel Jahrhundert! In schweren und auch in guten Stunden. Die Briefe, die ich geschrieben habe, die meisten an dich, waren immer für mich selbst bestimmt. Abgeschickt habe ich keinen. Warum? Ich sagte es ja, weil ich keine Antworten wollte. Die gibt es nämlich nicht. Dann kam sie, die tückische Krankheit, die mir das Ende ankündigte, unerbittlich und in relativ kurzen Etappen. Jetzt geht es nicht mehr, selbst wenn ich wollte.

      Also wenn Jana sich so verhält, wie ich es annehme und wünsche, bekommst du nicht nur meine konfusen Gedanken, Notizen, Briefe und Aufzeichnungen in sieben Ordnern, sondern sie bereits aufgearbeitet. Gewiss, ein nachträglicher Spaß wäre es schon, zu wissen, dass du dich durch all das durchfressen musst, was ich in 25 Jahren zusammengetragen habe. Aber du bist ja mein Freund. Deshalb nehme ich dir viel Arbeit ab und verarbeite die Aufzeichnungen selbst in diese Skizze. Vorausgesetzt, meine Zeit reicht. Die Originale zu lesen, bleibt dir ja unbenommen.

      Das Aufgeschriebene ist vor allem für Jana bestimmt. Wenn du es gelesen hast, wirst du wissen, warum. Für dich natürlich auch, denn du sollst mein Ansprechpartner sein und mein Medium. Vielleicht kannst nur du Jana dazu bringen, die kurzen Aufzeichnungen zu lesen. Als Erklärung. Mir würde viel daran liegen. Auch das gehört zu meinem Vermächtnis. Es ist nur schwer, den richtigen Einstieg zu finden. Vielleicht beginne ich unkonventionell, wechselnd mit dem Anfang und dem Ende? Egal! Du wirst mich schon verstehen.

      Freunde sind wir seit dem Jahr 1947, wenn ich mich recht erinnere. Was für eine Zeit … Wie es dazu kam, habe ich vergessen. Es ist auch unwichtig. Wir waren und blieben es, abgesehen von kurzen Unterbrechungen in der Sturm-und-Drang-Zeit. Meist war


Скачать книгу