Das Abenteuer meiner Jugend. Gerhart Hauptmann
Abend angemessen. Und, wie gesagt: den Luisenorden, eine Dekoration, die von ihr am meisten geschätzt und von allen am meisten beneidet wurde.
Hatten das Kindlein in der Krippe, Maria und Joseph, Ochs und Eselein aber je solche Worte gehört und in solchem Ton, wie sie aus dem Munde der Trägerin des Luisenordens nun hervorgingen? Schon die ersten Verlautbarungen der wohltätigen Dame schienen den Bartflaum, den sie auf der Oberlippe trug, gewissermaßen zu rechtfertigen.
»Ihr wisst, dass ihr von mildtätigen Menschen hier beschenkt werdet«, hieß es ungefähr, »und ich setze voraus, dass ihr das anerkennt und dankbar seid.« Es klang resolut, und man wusste sofort, mit Frau Enke anbinden würde viel Energie erfordern. Sie schüttete dann, sich mehrfach bis zu Kommandotönen steigernd, eine Fülle moralischer Forderungen aus, die nun noch von den verwirrten Gästen des Christkindes verarbeitet werden mussten, bevor sie ihre Portionen ergreifen durften.
Und plötzlich vernahm man zu allgemeinem Erstaunen und Befremden etwas wie einen wütenden Wortwechsel. Man erkannte dann, dass er einseitig war, dass nämlich Madame Enke ein hohlwangiges Bergarbeiterweib aufs schrecklichste öffentlich abkanzelte: man hatte ihm, hieß es, im vorigen Jahr Kinderkleider und dergleichen einbeschert, die sie nicht verwendet, sondern verkauft habe. »Eigentlich gehören Sie gar nicht hierher, Sie verdienen gar nicht, aufs neue beschenkt zu werden. Aber merken Sie sich: es ist heute das letzte Mal, falls Sie sich wiederum solcher Begünstigung unwürdig zeigen!«
Es war wohl der äußerste Tiefstand, auf den die gemütischen Eigenschaften der Madame Enke je gesunken waren.
Dieses Erlebnis, im hohen Grade roh, entrüstend und anstößig, ist mir als ein Paradigma solcher Veranstaltungen, wie sie nicht sein sollen, bis heute nachgegangen. Madame Enke hatte auf meiner Bühne ausgespielt.
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Die Familie feierte in diesem Jahr ein sehr anspruchsloses Weihnachtsfest, das mir allerdings eine Dreiviertelgeige als Geschenk brachte. Ich hatte mir eingeredet, es schlummre in mir vielleicht ein Musiker. Allein der Grund, weshalb ich mir eine Geige gewünscht hatte, war nicht der. Durch zwei Umstände ist er wahrscheinlich gelegt worden. Meinem Vater war eine Geige gestohlen worden, die er von seinem Großvater überkommen hatte, einem Weber und Dorfmusikus, der als solcher auch im Kirchendienst der Stadt Hirschberg mitwirkte. Die Geige in ihrem Kasten hatte im Großen Saale der Krone gestanden, Einbrecher hatten zur Winterzeit die Scheiben der großen Glastüren eingedrückt und die Geige vielleicht nur deshalb geraubt, weil der glänzende Messingbeschlag des Kastens sie anlockte. Es mag ein gutes, altes Tiroler Instrument gewesen sein, beileibe kein Stradivarius, aber die Pietät, die mein Vater dafür besaß, ferner die Fantasie von uns Kindern und schließlich die unbegrenzten Möglichkeiten, die bei alten Geigen gegeben sind, machten sie am Ende dazu.
Diese Geige lag mir im Sinn und desgleichen der musikalische Urgroßvater. Und überdies lebte in Salzbrunn Doktor Oliviero, ein vielbeschäftigter praktischer Arzt, der ausgebildeter Geiger war und seine berufsfreien Stunden der Geigenkunst widmete. Während des Kursaalwinters entstand das fantastische Gerücht, dass er wegen einer Geige in Unterhandlungen stehe, die fünf-, sechs- oder achttausend Taler kosten solle. Es war ein begründetes Gerücht, die Geige gelangte in seine Hände.
Irgendwie hatte sich im Anschluss an diese Umstände eine fanatische Geigensehnsucht in mir festgesetzt. Es kam wohl auch Eitelkeit dazu, Eindrücke der Gepflogenheiten des eleganten Kapellmeisters von der Kurkapelle. Wenn diese, wie öfters, Straußsche Walzer spielte, nahm er die Geige selbst in die Hand, um die Spieler zu höherem Schwunge fortzureißen.
So zog mein Vater denn Doktor Oliviero zu Rat, als mein Wunsch immer brennender wurde. Man möge mir, sagte der Doktor, ruhig willfahren, man bekomme ja schon für einige Taler ein für den Anfang genügendes Instrument, und was solle ein Versuch, geigen zu lernen, dem Knaben schaden? Und schließlich bot Oliviero sich an, mich, selbstverständlich ohne Entgelt, zu unterweisen.
Worauf denn auch wirklich der Unterricht nach Neujahr begann.
Doktor Oliviero hatte die gepflegteste und behaglichste Häuslichkeit. In den Zimmern hörte man keinen Tritt, weil die Fußböden mit einer dünnen Schicht Stroh überdeckt und mit Teppichen überspannt waren. Das Ehepaar Oliviero war kinderlos. Er, ein nicht großer Mann mit einem beethovenähnlichen, aber gelassen-gütigen Musikerkopf, sie, eine stattliche, schöne Frau, die erheblich jünger als er sein musste. Ich fühlte mich wohl in diesem Hause, dessen Kultur eine in Salzbrunn ungewöhnliche war und in dem ich mit einem stillen Gleichmaß von Güte behandelt wurde.
Doktor Oliviero ging während der Unterrichtsstunde, immer mit ausgesuchtester Akkuratesse gekleidet, die Geige an der Schulter, mit bequemen Schritten hin und her, jede Pause meiner jämmerlichen Kratzerei benutzend, um sich mit Läufen, Trillern, Doppelgriffen, Oktavgängen und Flageoletts schadlos zu halten.
Mitunter blickte oder trat die schöne Arztfrau herein, an vornehmer Haltung und Kleidung ein Typ, nach dem man heut im Hause eines Landarztes ebensolange wie damals suchen müsste. Manchmal erhielt ich dann eine Süßigkeit, oder es wurde uns, wenn es draußen sehr kalt war, in den stets überheizten Zimmern Tee serviert. Man spürte in allem, Tapeten, Möbeln, Bildern und Vorhängen, eine besondere Wohlhabenheit, die in der Tat hier zugrunde lag und nicht aus der Bergmanns-Praxis stammte.
Nie übrigens sah man Doktor Oliviero in irgendeiner Gaststube noch in der Restauration irgendeines Hotels oder gar seine Frau und ihn bei winterlichen Ressourcebällen oder den sommerlichen Soireen für Badegäste. Fürstlich privilegierter Badearzt war Doktor Oliviero nicht.
*
Eine Drei-Kaiser-Zusammenkunft stand vor der Tür. Bismarck hatte sie im Interesse des Friedens – der Sieger will immer den Frieden! – angeregt. Alexander II. von Russland, Franz Joseph von Österreich und Wilhelm I. einigten sich zur Aufrechterhaltung des Friedens und des Status quo. Kurz, alles traf alle möglichen Anstalten, um dem neuen Reich und der neuen Welt eine Friedensepoche zu gewährleisten, in der sich ein friedlicher Wettstreit, dessen Kräfte wie ungeduldige Rosse in den Gebissen schäumten, grenzenlos entfalten konnte und sollte.
In diese erwartungsvolle, von nah erfüllbaren Hoffnungen