Die Phantome des Hutmachers. Georges Simenon
gab er ihn zurück – was ein Fehler war, gestand er damit doch ein, dessen Bedeutung begriffen zu haben. Weil er schüchtern und quasi von Natur aus demütig war, beging er noch einen zweiten Fehler, indem er einen Satz begann, den zu beenden er nicht den Mut hatte:
»Ich hatte angenomm…«
In einem Nebel aus Lichtern sah er nichts anderes als Stühle, Rücken, Tuch, Sägespäne auf dem Fußboden, die schwarzen Füße des Ofens, und er hörte eine tiefe und ruhige Stimme, die sagte:
»Danke, Kachoudas.«
Denn sie unterhielten sich. Jeden Morgen um acht traten der Hutmacher und der Schneider vor ihre Häuser, um die Holzplatten wegzunehmen, die ihnen an ihren Geschäften als Fensterläden dienten. Die Metzgerei neben Kachoudas hatte schon lange geöffnet. Samstags versperrten die Bäuerinnen der Gegend, die Gemüse oder Geflügel verkauften, mit ihren Körben die Straße, an den übrigen Tagen aber trennten die beiden Männer nur die Pflastersteine und sagte Kouchadas schon aus Gewohnheit:
»Guten Morgen, Monsieur Labbé.«
Je nach Himmel fügte er hinzu:
»Schönes Wetter heute.«
Oder aber:
»Immer Regen.«
Und der Hutmacher erwiderte gutmütig:
»Guten Morgen, Kachoudas.«
Das war alles. Sie waren zwei Ladenbesitzer mit einander gegenüberliegenden Geschäften. Soeben aber hatte Monsieur Labbé Silbe für Silbe betonend gesagt:
»Danke, Kachoudas.«
Und zwar mit ungefähr der gleichen Stimme. Womöglich war es sogar genau die gleiche Stimme, und das trotz der fürchterlichen Entdeckung, die der kleine Schneider da gerade gemacht hatte. Kachoudas hätte sein Glas am liebsten in einem Zug geleert. Das Glas klackerte gegen seine Zähne. Er versuchte, sehr schnell zu denken, richtig zu denken, doch je mehr er sich anstrengte, umso mehr gerieten seine Gedanken durcheinander.
Vor allem aber durfte er den Kopf nicht nach rechts drehen. Das hatte er gleich im ersten Moment beschlossen.
An dem mittleren Tisch, dem des Senators, des Druckers, des Arztes, des Hutmachers, saßen Männer um die sechzig bis fünfundsechzig, die im Grunde die wichtigsten waren, an den anderen Tischen dagegen saßen andere Spieler, ja, und hauptsächlich rechts die Belote-Spieler, die die Generation der Männer zwischen vierzig und fünfzig repräsentierten. Und dort an diesem Tisch konnte man so gut wie immer zwischen fünf und sechs Uhr Sonderkommissar Pigeac sehen, ihn, den man betraut hatte, die Sache mit den alten Frauen zu untersuchen.
Kachoudas musste um jeden Preis vermeiden, in seine Richtung zu blicken. Er durfte sich aber ebenso wenig zu dem jungen Reporter umdrehen, der immer noch schrieb. War Jeantet nicht zweifellos einmal mehr damit beschäftigt, auf eine der Botschaften des Mörders zu antworten?
Binnen zwanzig Tagen war dies zu einer festen Gewohnheit geworden, fast einer Tradition. Nach jedem Mord erhielt die Zeitung einen Brief, für den Buchstaben, häufig ganze Wörter ausgeschnitten worden waren aus älteren Ausgaben des Echo des Charentes – wo dieser daraufhin abgedruckt wurde, gefolgt von einem Kommentar des jungen Jeantet. Am nächsten oder übernächsten Tag antwortete dann wiederum der Mörder, immer mithilfe von ausgeschnittenen und auf ein weißes Blatt geklebten Papierschnipseln.
Und gerade am Tag zuvor hatte die Botschaft einen Satz beinhaltet, der den kleinen Schneider auf der Stelle erstarren ließ:
Sie täuschen sich, junger Mann. Ich bin kein Feigling. Nicht weil ich feige wäre, halte ich mich an alte Frauen, sondern weil ich dazu gezwungen bin. Sollte ich morgen ebenso gezwungen sein, einen Mann anzugreifen, und sei er noch so groß und kräftig, so werde ich das tun.
Manche Briefe waren eine halbe Spalte lang und bestanden aus Hunderten von geduldig ausgeschnittenen Buchstaben, weshalb Jeantet geschrieben hatte:
Der Mörder geht nicht nur geduldig und akribisch vor, seine Lebensweise lässt ihm zudem viel Freizeit.
Der Journalist, er war neunzehn, geduldig auch er, hatte ein Experiment gemacht. Er hatte ausgerechnet, wie viel Zeit man benötigte, um mithilfe von aus alten Zeitungen ausgeschnittenen Buchstaben einen dreißig Zeilen langen Brief zu verfassen. Kachoudas erinnerte sich nicht mehr an das genaue Ergebnis, doch war es ungeheuer.
Sollte ich morgen ebenso gezwungen sein, einen Mann anzugreifen … Der eine rauchte in kleinen Zügen seine Pfeife und sah zu, wie Karten gespielt wurde, der andere hatte einen schmuddeligen Zigarettenstummel an der Lippe kleben und traute sich nirgends hinzugucken. Ab und zu warf Monsieur Labbé einen Blick auf die Uhr, und schon um fünf Uhr fünfundzwanzig bestellte er seinen zweiten Picon. Es war halb sechs, als er aufstand – was genügte, damit Gabriel mit seinem Mantel und seinem Hut gelaufen kam.
Musterte er Kachoudas wirklich mit ironischem Wohlwollen? Eine Rauchschwade über den Köpfen der Spieler wurde länger und länger. Der Ofen sorgte für Hitzewallungen. Man hätte meinen können, Monsieur Labbé würde warten, würde genau erraten, was der kleine Schneider dachte.
»Wenn ich ihn allein gehen lasse, kann er sich irgendwo in einer dunklen Ecke in der Rue du Minage auf die Lauer legen …«
Und wenn Kachoudas auf der Stelle reden würde, egal mit wem, mit dem Kommissar oder sogar dem Journalisten? Wenn er alles erzählte, mit ausgestrecktem Zeigerfinger: »Er ist es!«
Der Papierschnipsel war verschwunden. Vergeblich suchte Kachoudas ihn mit Blicken. Ihm fiel wieder ein, dass der Hutmacher ihn zwischen den Fingern zerknüllt, in eine gräuliche Pille verwandelt hatte. Und selbst wenn die beiden ausgeschnittenen Buchstaben auf den Boden gefallen wären – wie beweisen, dass er sie aufgelesen hatte auf der Hose von Monsieur Labbé?
Nicht mal das würde ausreichen. Das stand dermaßen außer Frage, dass Monsieur Labbé nicht mit der Wimper gezuckt, nicht die geringste Angst gehabt, einfach nur gesagt hatte:
»Danke, Kachoudas.«
Auf dem Spiel standen zwanzigtausend Franc, ein Vermögen für einen kleinen Schneider, dem kaum etwas anvertraut wurde außer Ausbesserungen oder Anzügen zum Wenden und dessen älteste Tochter als Verkäuferin bei Prisunic arbeitete.
Um sich die zwanzigtausend Franc zu verdienen, konnte man nicht mir nichts, dir nichts eine Anschuldigung in die Welt setzen. Man hätte den Mörder nicht vorwarnen sollen.
Jetzt wusste es Monsieur Labbé. Und Monsieur Labbé, der seit dem 13. November – das heißt binnen zwanzig Tagen – fünf alte Frauen umgebracht hatte, würde sich seiner leicht entledigen können.
Hatte Kachoudas Zeit, all das zu bedenken? Der Hutmacher berührte die Fingerspitzen von jedem seiner Freunde. Man sagte zu ihm:
»Guten Abend, Léon.«
Denn er hieß ja Léon. Er klopfte dem Doktor, der beim Kartengeben war und keine Hand frei hatte, auf die Schulter, worauf der Doktor grummelte:
»Gute Besserung für Mathilde.«
Man hätte schwören können, dass er absichtlich langsam machte, um Kachoudas Zeit für eine Entscheidung zu geben. Sein Gesicht war dasselbe wie vorhin, als Valentin ihn die Wendeltreppe hatte herunterkommen sehen. Früher war er mal dick gewesen, vielleicht sogar fett, hatte aber mächtig abgenommen, was man an seinen weichen Linien, an seinen schlaffen Zügen merkte. Nach wie vor wog er bestimmt doppelt so viel wie Kachoudas.
»Bis morgen.«
Der Zeiger hatte gerade das halbe Zifferblatt durchschritten, da fiel die Tür ins Schloss und griff sich Kachoudas vom Nachbarstuhl seinen Mantel. Um ein Haar wäre er ohne zu zahlen gegangen, so sehr hatte er Angst, Monsieur Labbé könnte um die Ecke in die Rue du Minage gebogen sein, ehe er selber draußen war. Dann nämlich wären alle Fallen möglich. Allerdings nach Haus musste er ja schließlich.
Monsieur Labbé ging mit seinen gleichmäßigen Schritten, weder langsam noch schnell, und zum ersten Mal fiel dem kleinen Schneider auf,