Herbarium, giftgrün. Gert Ueding

Herbarium, giftgrün - Gert Ueding


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und, wie Kersting glaubte, aufgewecktere von beiden.

      »Gestern kam mir das wenig sinnvoll vor, Sie hierher zu bemühen. Ich hatte ein paar Schrammen, die beiden waren abgehauen, ich hätte nicht mal eine gute Personenbeschreibung geben können, an eine Wiederholung glaubte ich nicht.« (Zumal sie ja bekommen hatten, was sie wollten, dachte er, ohne das aber auszusprechen – hätte arg abenteuerlich und verschwörungsgläubig geklungen.)

      »Haben Sie Feinde, denen Sie derartige Gewalttätigkeiten zutrauen?«

      »Fällt mir niemand ein.«

      Sie rätselten noch ein wenig an dem Motiv herum, die beiden machten ein paar Photos mit ihren Handys, sammelten Steine und Plastikpistole ein (»Werden sicher keine Fingerabdrücke drauf zu finden sein.«) und fuhren dann wieder ab, nachdem sie Kersting gebeten hatten, am nächsten Tag vorbeizukommen, um das Protokoll des Vorfalls und die offizielle Anzeige zu unterschreiben.

      Kersting schloss die alten, aber noch festen Fensterläden im Erdgeschoss, fegte die Scherben zusammen und stieg wieder die Treppe hoch in sein Atelier, wo er sich instinktiv sicherer fühlte.

      Eines war ihm klar geworden. Irgend etwas stimmte nicht mit den Umständen um den Roeder-Fall, und jemand versuchte, ihn sehr handfest vom weiteren Nachforschen abzuhalten. Was seinen Eigensinn freilich nur stimulierte: Jetzt gerade! Doch wie sollte er sich gegen weitere mögliche Attacken schützen?

      Eine richtige Waffe? Besser nicht. Würde nur zur Eskalation beitragen. Außerdem: wie drankommen? Schießen hatte nicht zu seiner Ausbildung gehört.

      Dann erinnerte er sich, dass er Christa, als sie beide noch zusammen waren und sie von einsamen Waldgängen nicht ablassen wollte, einen angeblich höchst wirksamen Pfefferspray gekauft hatte. Auch würde er sich eine von den neuen und sehr lichtstarken LED-Taschenlampen besorgen. Am besten eine von den schweren röhrenförmigen Exemplaren, die auch als Waffe dienen konnten? Und ganz sicher würde er je einen starken Scheinwerfer vorne über der Tür und hinter dem Haus anbringen lassen. Mit Bewegungsmelder.

      Die konkreten Pläne erhöhten sein Sicherheitsempfinden, noch bevor sie in die Tat umgesetzt waren und beruhigten ihn nach der Aufregung des Abends. Aber wie sollte es jetzt weitergehen? Dass er nicht aufgab, verstand sich. Er wurde den Verdacht nicht los, dass die Ereignisse der beiden letzten Tage mit dem eigentlichen Roeder-Fall nur weitläufig zusammenhingen oder ihr Zusammenhang erst wichtig und ersichtlich wurde, wenn er mehr wusste.

      Es ging also darum, mehr zu erfahren: Von den Studienbedingungen, die Verena Roeders Leben bestimmt hatten, von ihren Freunden und Freundinnen, ihren Dozenten – er musste mehr ins studentische »Milieu« hinein, durfte nicht so weit entfernt von außen agieren, da entgingen ihm die wichtigen konkreten Details. Er spürte, wie er sich wieder in den Fall zu verbeißen begann. Die Angriffe auf sich nahm er persönlich, das mochte falsch sein, doch offene Rechnungen hatte er nie gemocht. Auch gab es Ansatzmöglichkeiten genug, wenn er an seinen Besuch bei den Germanisten dachte.

      Als erstes wollte er morgen den Namen der Studentin herausbekommen, die in dem Interview den Hinweis auf das Cusanus-Seminar gegeben hatte. Im Zeitungsartikel war sie nur mit dem Namenskürzel J. O. aufgetaucht, aber ihr Zeitungsbild hatte er zusammen mit dem ganzen Interview-Text im Photospeicher seines Smartphones.

      Unterdessen war es spät geworden, beinah zweiundzwanzig Uhr, doch er war noch hellwach und zum Lesen zu aufgeregt. Er griff zum Handy und wählte die Nummer von Boris Karlsdorf, einem befreundeten Redakteur des Südwestrundfunks, der im Studio oben auf dem Tübinger Österberg arbeitete und ihn auch schon zwei Mal interviewt hatte. Als er sich meldete, hörte er im Hintergrund lautes Stimmengewirr, sicher aus Boris’ Stammkneipe.

      »Ich bin noch zu nervös zum Schlafen und brauche einen Auslauf. Wo bist du gerade?«

      »Im ›Bären‹.«

      »Dacht’ ich mir. Ich setze mich ins Auto und komme für eine Stunde dazu.«

      »Schön, ich warte. Ist wenig los hier, die Studenten fehlen.«

      Als Kersting die Tür in den stickigen Gastraum aufstieß, sah er nur an zwei Tischen die volle Besetzung, aber in so lebhafte, laute Unterhaltung verstrickt, dass sie es zumindest akustisch mit der doppelten Anzahl hätten aufnehmen können. Boris saß am Tresen, nahm, als er ihn erblickte, sein halbgefülltes Glas und steuerte einen Tisch in der hinteren Ecke an. Er war etwas größer als Kersting, breitschultrig und beleibt, mit braungesprenkelten Augen und Dreitagebart im ovalen Gesicht, das sonst Gutmütigkeit und Witz ausstrahlte, jetzt aber misslaunig wirkte.

      »Ich habe gerade die zweite Attacke hinter mir«, begann Kersting.

      »Welcher Kritiker hat dich denn diesmal aufs Korn genommen? Nicht so ernst nehmen. Kritiker sind die skrupellosesten aller Menschen, und die bestechlichsten und faulsten aller Menschen: eine ganz und gar niederträchtige Sorte …«

      »Ach, du weißt ja noch gar nicht – « Kersting hatte ihm tatsächlich bisher noch nicht von dem gestrigen Überfall vor seinem Haus berichtet und holte das jetzt nach.

      »Du glaubst, das hängt alles mit dem Fall Roeder zusammen?«

      »Eine andere Erklärung fällt mir nicht ein. Auch wenn es mir immer noch schwerfällt, unsere beschauliche Stadt als Schauplatz von Mord und Totschlag zu akzeptieren.«

      »Beschaulich? War Tübingen wahrscheinlich nie. Dafür hat die Universität schon gesorgt. Die Professoren sind die verlogensten Kreaturen, verlogener und korrupter als die Politiker. Egozentrisch, niederträchtig und korrupt. Wenn ihnen Geld oder Ruhm winkt, sind sie zu jeder Schandtat bereit. In Deutschland waren sie immer zuerst Staatsdiener oder Parteidiener oder beides zusammen und dann lange nichts, irgendwann mal Wissenschaftler, aber ganz zum Schluss. Verdorbene Charaktere, die ohne Verdorbenheit gar nicht auf einen Lehrstuhl gekommen wären, und wenn sie ihn haben, dann wachsen sie dran fest, wie geklebt, und verderben alles, was sich ihrer Verdorbenheit widersetzt.«

      »Boris, du klingst wie Thomas Bernhard, wenn er auf die Künstler schimpft. Was für eine Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«

      »Nicht eine Laus, sondern zwei Läuse, ich meine Professoren, die auf den Köpfen der Dichter sitzen und saugen und schaben bis sie das schönste Werk ruiniert haben. Sie ruinieren die Kunst, wo sie sie antreffen. Diesmal im Hölderlinturm. Ich sollte das moderieren. Aber moderiere du mal gespreizte Eitelkeit und hochtrabende Dummheit!«

      Kersting lachte über den Furor des Freundes, dessen gerötete Wangen zeigten, dass auch einige Gläser Bier sein Temperament angestachelt hatten. Nach kurzem Zögern stimmte er aber in Kerstings Heiterkeit ein.

      »Manchmal muss man übertreiben, um der Wirklichkeit wenigstens nahe zu kommen. Mich wundert in Unisachen gar nichts mehr. Ein Studentenvertreter hat mir aus der Sitzung berichtet, in der die Philosophische Fakultät zu der unsinnigen Bologna-Reform Stellung nehmen wollte. Du weißt: Umstellung auf Bachelor- und Master-Studiengänge. Der Ruin unserer Universitäten. Haben die nach so vielen Jahren nun auch gemerkt! Waren natürlich alle ›eigentlich‹ dagegen, aber öffentlich zu protestieren hat sich keiner getraut. Handlanger des Staates, dem sie ein Leben lang dienen und dabei so tun, als gehe er sie nichts an, aber sie lecken ihm die Pranken, wo es nur geht, und wenn es drauf ankommt, machen sie den täglichen Kotau noch ein bisschen tiefer.«

      »Du bist vielleicht geladen heute!«

      »Wir sind in Tübingen! Wenn du, wie ich, jeden zweiten Tag mit diesen Leuten zu tun hättest, würdest du auch nicht anders reden. Der Roeder-Fall bestätigt doch alles, was ich sage. Erst vergiften sie die Köpfe ihrer Studenten, dann bringen sie sie noch um, Existenzverhinderer allesamt und mit der Polizei im besten Ruhe-und-Ordnung-Einvernehmen. Oder hast du etwas anderes als ›weiß nicht, weiß nicht‹ gehört? Keiner will etwas wissen! Und wenn dann einer die Ruhe stört wie du, muss man ihn eben zur Ordnung rufen. Wenn nötig mit Gewalt.«

      Jetzt kamen Kersting die Reden seines Freundes arg überhitzt und gallig vor, dem frustrierenden Tagesgeschäft eines Journalisten entsprungen, der sich endlich mal Luft machen konnte. Er sollte bald schon etwas anders darüber denken.

      Der


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