Dein Reich komme. Jürgen Kroth

Dein Reich komme - Jürgen Kroth


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der Zeit gegen Bergson eingewandt, dieser unterschlage die Ernsthaftigkeit der Todesgrenze metaphysisch, indem er – darin ganz Theologe – im Versprechen des ewigen Lebens über die reale Welt eine zweite projiziere und damit die reale Widersprüchlichkeit eskamotiere. Vor diesem Hintergrund sind die schroffen Anmerkungen Horkheimers nicht mehr ganz so drastisch, sondern schulden sich der metaphysischen Überhöhung einer sekundären Welt.

      „Was den Menschen, die untergegangen sind, geschehen ist, heilt keine Zukunft mehr. Sie werden niemals aufgerufen, um in der Ewigkeit beglückt zu werden. Natur und Gesellschaft haben ihr Werk an ihnen getan, und die Vorstellung des Jüngsten Gerichts, in welche die unendliche Sehnsucht von Bedrückten und Sterbenden eingegangen ist, bildet nur ein Überrest des primitiven Denkens, das die nichtige Rolle des Menschen in der Naturgeschichte verkennt und das Universum vermenschlicht. Inmitten dieser unermeßlichen Gleichgültigkeit kann allein das menschliche Bewußtsein die Stätte sein, bei der erduldetes Unrecht aufgehoben ist, die einzige Instanz, die sich nicht damit zufriedengibt. Die allmächtige Güte, welche die Leiden in der Ewigkeit tilgen sollte, ist von Anfang an bloß die Projektion menschlicher Teilnahme in das stumpfe Weltall gewesen. Kunst und Religion, in denen dieser Traum Ausdruck gefunden hat, sind ebensosehr unmittelbare Zeugnisse dieser Unzufriedenheit, wie sie andererseits an vielen Stellen der Geschichte zu reinen Mitteln der Beherrschung geworden sind.“77

      Es ist nicht so sehr der Gedanke möglicher Rettung, den Horkheimer hier abweist, denn diese Möglichkeit hält der Historiker fest in seiner Rolle, neue Lebensformen der Gesellschaft zu entwickeln und zugleich „das Entschwundene im Gedächtnis zu bewahren“78, sondern die metaphysische Behauptung einer Gewährung von Rettung durch Abstraktion von der Welt und damit auch von den realen Leiden. Nur insofern der Gedanke Horkheimers sich mit einer explizit atheistischen Position vorträgt – so liest zumindest Adorno diesen Aufsatz –, wird er zu einer abstrakten Negation der kritisierten Metaphysik und dieser darin gleich, dass die metaphysische Gewalt mit jeder weiteren Explikation zunimmt.79

      Die Möglichkeit des Gottesgedankens, wie auch der Erfahrbarkeit kann jedoch nicht negiert werden, ohne dass in der Kritik möglicher Gotteserfahrung ein Wissen beansprucht würde, was den gleichen metaphysischen Anspruch erhöbe wie der Gottesgedanke. Diese Einsicht ist eine Folge immanenter Kritik des identitätslogischen Denkens, das schließlich auch zu den großen Atheismen führte, indem der objektiven die subjektive Vernunft entgegengestellt wurde. Daher wäre eigentlich auch der Atheismus Horkheimers nur dann triftig, wenn ihm ein Wissen zukäme, das das Negierte voraussetzte. Gleichwohl darf die Position Horkheimers nicht unterschätzt werden, denn zumindest ist seine Gestalt des Atheismus geprägt von dem Pathos, die Sinnlosigkeit des Leidens praktisch zu negieren.80 Darin aber folgt er einer immanenten Kritik des Leidens, das sich selbst Ausdruck verschafft, dass es nicht sein will. Der Widerspruch gegen das Leiden ist mit dessen Sinnlosigkeit schon gesetzt. Die Betonung der Abgeschlossenheit der Vergangenheit innerhalb der materialistischen Philosophie wendet sich gegen all jene Überlegungen, die im Leiden noch einen Sinn dekretieren einerseits und der positiven Behauptung einer Hoffnung, die doch durch nichts zu begründen ist andererseits.81 Beide Möglichkeiten gelten Horkheimer als idealistisch, wie in dem Brief an Benjamin notiert.

      „Über die Frage, inwiefern das Werk der Vergangenheit abgeschlossen ist, habe ich seit langem nachgedacht. […] Persönlich mache ich das Bedenken geltend, daß es sich auch hier um ein nur dialektisch zu fassendes Verhältnis handelt. Die Feststellung der Unabgeschlossenheit ist idealistisch, wenn die Abgeschlossenheit nicht in ihr aufgenommen ist. Das vergangene Unrecht ist geschehen und abgeschlossen. Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen. […] Nimmt man die Unabgeschlossenheit ganz ernst, so muß man an das Jüngste Gericht glauben. Dafür ist mein Denken jedoch zu sehr materialistisch verseucht.“82

      Soll jedoch die Theorie nicht die kritisierte Metaphysik duplizieren, der es „um überzeitliche Wahrheit“83 zu tun ist, so muss auch die eigene Theorie von den gesellschaftlichen Erfahrungen affizierbar sein. Es wundert nicht, dass die Überlegungen Horkheimers zur Frage der Abgeschlossenheit von Geschichte in einer gesellschaftlichen Situation stattfinden, die den Zeitvermerk vor Auschwitz besitzen; und es nimmt weiterhin nicht wunder, dass sich nach Auschwitz grundlegende Änderungen der Theorie angeben lassen, in denen auch diese Frage ein anderes Gewicht bekommt.

      In seinen späten Schriften korrigierte Horkheimer seine früheren Aussagen darin, dass er nunmehr deutlicher auf den Gottesgedanken und die durch diesen Gedanken verbürgte Wahrheit rekurriert, ohne diese jedoch affirmieren zu können. Gerade im Eingedenken der Leiden wird das Denken genötigt, den Gedanken, der auf Wahrheit zielt84, nicht zu schnell abbrechen zu lassen und auch dann noch festzuhalten, wenn die reale Erfahrung eher die Abwesenheit von Wahrheit anzeigt. Denn ohne Gedanken an die Wahrheit „ist kein Wissen um ihr Gegenteil, die Verlassenheit des Menschen, um deretwillen die wahre Philosophie kritisch und pessimistisch ist, ja nicht einmal die Trauer, ohne die es kein Glück gibt“85. Ein emphatisches Festhalten an Wahrheit kann aber ohne Gottesgedanken letztlich nicht mehr gedacht werden, wenn Wahrheit nicht positivistisch verkürzt werden soll auf Berechenbares, Nützliches und Funktionables. „Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel. […] Ohne Berufung auf ein Göttliches verliert die gute Handlung, die Rettung des ungerecht Verfolgten ihre Glorie“86, schreibt Horkheimer 1963, womit ein zentrales Motiv des Gottesgedankens selbst angegeben ist, für den Kritische Theorie einsteht: die Rettung der Opfer der Geschichte. Nicht jedoch folgt für Horkheimer die Sehnsucht der Rettung unschuldig Ermordeter einem expliziten Gottesgedanken, sondern der Gottesgedanke stellt die radikalisierte materialistische Sehnsucht dar, Verhältnisse zu schaffen, in denen Menschen leben können und auch jenen Gerechtigkeit widerfährt, die schon längst vergangen sind.

      Die Wahrnehmung der geschichtlichen und metaphysischen Katastrophe von Auschwitz hat somit zur Folge, dass die marxistischen Hoffnung auf Überwindung der Klassengegensätze als beständiger Fortschritt der Freiheit aufgegeben wird und die Frage immer mehr ins Zentrum rückt, „warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“87. Auschwitz, der „Mord an Millionen durch Verwaltung“88, verändert somit auch Horkheimers Überlegungen89 zu der Frage, ob die Geschichte abgeschlossen oder unabgeschlossen ist. Weder die Abgeschlossenheit, noch die Unabgeschlossenheit ist theoretisch explizierbar, da dies ein Wissen um das Absolute voraussetzte, das doch nicht möglich ist. Beide Alternativen sind daher als falsch abzuweisen. Insofern treffen die problematischen Anmerkungen Horkheimers zu Benjamins These der Unabgeschlossenheit der Geschichte90 doch ein Richtiges. Ein unmittelbares Wissen um die Geschichte ist im schlechten Sinne theologisch. Möglich ist einzig die Sehnsucht, es möge bei dem bestehenden Unrecht nicht bleiben, es möge anders werden. In dieser Sehnsucht arktikuliert sich Wahrheit, die dem Gedanken folgt, der das Unrecht verneint; diese Wahrheit konvergiert mit der Theologie, die für die praktische Aufhebung bestehenden Leids wie auch für die eschatologische Umkehrung vergangenen Leids einsteht. Die Konvergenz jedoch folgt weder der Suprematie der Theologie über die Philosophie noch umgekehrt. Sie ergänzen sich wechselseitig und sind auch wechselseitig vermittelt, da jeder Glaube, der über seine Hoffnung keine Rechenschaft ablegt, unbestimmt und jede Philosophie, die nicht Theologie in sich bewahrt, Geschäft bleibt.91

      Bei Max Horkheimer ist die Rede von der Sehnsucht nach dem ganz Anderen geprägt von dem Streben, an dem festzuhalten, was wir Sinn nennen92, wofür der Gedanke des Anderen steht. Theodor W. Adorno, in der Konsequenz eins mit Max Horkheimer, setzt an einem anderen Punkt an, indem er das gesamte Denken in der identitätslogischen Gestalt bezichtigt, das Disparate getilgt und Ungleichnamiges komparabel gemacht zu haben. Das der behaupteten Identität Widerstreitende aber ist das Leid und Adorno wundert sich – mit Georg Simmel – sehr, „wie wenig man ihrer Geschichte die Leiden der Menschheit anmerkt“93. Gerade dies aber, „die Leiden beredt werden zu lassen“94, sei Bedingung von Wahrheit, so dass ein jedes Denken, das auf Wahrheit zielt, sich von den realen Leiden irritieren lassen muss. In spezieller Weise gilt dies freilich für die Theologie, die ihren Anspruch auf Erlösung vor der Katastrophe von Auschwitz neu zu prüfen hat. Der Verdacht, die Leiden der Welt ungebrochen und weitgehend unirritiert in den Begriff der Erlösung zu subsumieren, lastet


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