Am Rande des Sturms: Das Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg / En marche de la tempête : les forces armées suisse pendant la Première Guerre mondiale. Группа авторов

Am Rande des Sturms: Das Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg / En marche de la tempête : les forces armées suisse pendant la Première Guerre mondiale - Группа авторов


Скачать книгу
nicht auf. Ebenso wenig teilt er den Optimismus eines Johann von Bloch oder eines Norman Angell, die beide – der eine 1898, der andere 1910 – in materialreichen Studien die Unmöglichkeit eines Krieges angesichts einer forcierten Globalisierung nachzuweisen versuchten.29 Jöhr blieb skeptisch, doch er glaubte, die Schweiz könne ihre vielfältigen Verbindungen nutzen und sie für die Neutralitätssicherung instrumentalisieren. Dabei ging er auch von der – nach 1914 rasch falsifizierten – Vorstellung aus, dass die Weltmeere gerade angesichts moderner Waffentechnik nach einer kurzen Umbruchphase rasch wieder sicher sein würden, weil sich zwangsläufig die eine oder andere Seite durchsetzen müsse.

      Dass Abhängigkeiten gleichzeitig Aktivposten in den wirtschaftlichen Aussenbeziehungen eines Landes darstellen, wurde 1913 noch pointierter als bei Jöhr durch den Wirtschaftshistoriker und Sekretär der Basler Handelskammer, Traugott Geering, geäussert. In einer Analyse der «Exportstruktur der schweizerischen Volkswirtschaft» schilderte dieser die Schweiz als pionierhaften modernen Industriestaat mit «gewaltiger Exportleistung». Seine Aussenwirtschaft ermögliche es dem Land, «das Erwerbsleben […] weit über das Mass der natürlich gegebenen Produktionsbedingungen […] hinaus» zu erweitern und «für Hunderttausende Arbeit und Erwerb im Lande» zu schaffen, «die sonst keinen Platz bei uns hätten». So hat zum Beispiel die Uhrenindustrie – gemessen am kleinen Landesbedarf – «eine fünfzigmal grössere Produktion für den Weltmarkt aufgebaut».30 Geering sah in solchen wirtschaftlichen Verflechtungen eine «innere Notwendigkeit für jedes halbwegs zivilisierte Volk»; in «einem so kleinen Kulturstaate wie die Schweiz» wären sie «am allerwenigsten zu vermeiden».31 Mit seiner «kräftigen, schöpferischen industriellen Initiative» erschliesse sich das Land «das unendliche Wirkungsfeld des Weltmarktes».32 Tatsächlich werde die Schweiz «durch die […] enge Verkettung mit dem Weltmarkt vom Ausland abhängig». Dieser Sachverhalt sei jedoch auch eine Stärke, denn «mit diesen Exporten machen wir […] das Ausland unserer Volkswirtschaft in dem denkbar stärksten Masse tributär».33 Die «Unentbehrlichkeit unserer Exportproduktion für das Ausland» ermögliche es der Schweiz im Gegenzug, «das Brotkorn in der Hauptsache» zu importieren.34 Aufgrund dieses «industriellen Machtbestandes» dürfe das Land optimistisch in die Zukunft blicken.

      Geering formuliert hier ein Jahr vor Kriegsausbruch die These einer fundamentalen Reziprozität von Abhängigkeit und Attraktivität, von Verwundbarkeit und Einflussnahme. Er brachte jene Faktoren ins Spiel, die es den Akteuren der schweizerischen Volkswirtschaft auch im Zustand der «bewaffneten Neutralität» ermöglichen können, überraschende Chancen wahrzunehmen. Wie vor ihm schon Adolf Jöhr thematisierte er indirekt die Ambivalenz eines wirtschaftlichen Sich-nützlich-Machens der Schweiz. Dieses setzte Verflechtungen in alle Richtungen voraus; mit Autarkiemaximen kann man anderen wenig bieten. Eine offene und leistungsfähige Volkswirtschaft hingegen erhöht nicht nur das Erpressungspotenzial, sondern kann die staatliche Souveränitätsbehauptung sowie nationale Existenzsicherung unterstützen. Das mag kostspielig sein – dieselbe Konstellation bietet aber ebenso Chancen auf Kriegsgewinne und für ein neutrales Profitieren.

      Eine solche Problemstellung führt zur Frage, inwieweit die militärischen, politischen und wirtschaftlichen Verantwortlichen solche zentralen Einsichten rezipierten. Und sie regt zur Überlegung an, inwieweit diese komplexe Problematik in der schweizerischen Öffentlichkeit wahrgenommen und diskutiert wurde.

      III.

      Welche Konsequenzen wurden in der Schweiz vor und bei Kriegsausbruch aus den vorgestellten Analysen gezogen? Der Historiker Heinz Ochsenbein hielt bereits 1971 in seiner Studie «Die verlorene Wirtschaftsfreiheit» fest: «Weder der Bundesrat noch der Generalstab hat in seiner Lagebeurteilung die Erkenntnis vorweggenommen, dass die Schweiz […] durch eine Wirtschaftsblockade am lebenswichtigen wirtschaftlichen Nerv getroffen werden könnte, dass im 20. Jahrhundert die Handelspolitik immer mehr zur Aussenpolitik werden würde und die Schweiz gerade dank ihrer wirtschaftlichen Verflechtung mit allen wichtigen Ländern einige Überlebenschancen hätte.»35 Ochsenbein konstatiert bei der militärischen und zunächst auch bei der politischen Führung eine eklatante Unfähigkeit, die Zusammenhänge zwischen souveränem Staat und funktionsfähiger Wirtschaft angemessen zu reflektieren. Er attestiert zum Beispiel Bundesrat Giuseppe Motta einen grotesken «Dilettantismus» und spricht insgesamt von einer «erstaunlichen Sorglosigkeit».36 Aus transnationaler Perspektive lässt sich unschwer zeigen, dass es sich hier keineswegs um eine schweizerische Spezialität handelt. So konstatierte der 1919 in die Schweiz eingewanderte österreichische Ökonom und Bankier Felix Somary einen «ökonomischen Analphabetismus» in vielen Ländern; dieser ist allerdings in der vergleichsweise kompakten und eng vernetzten schweizerischen Elite besonders erklärungsbedürftig.37

      Die Neigung, Probleme der Versorgungssicherheit in einen sehr kurzfristigen Zeithorizont zu stellen, war omnipräsent. 1912 lenkten die Spannungen auf dem Balkan und der dort im Herbst ausbrechende Krieg auch in Regierung und Parlament einige Aufmerksamkeit auf diese Fragen. Am 19. Juni 1912 reichten der katholisch-konservative Nationalrat Josef-Anton Balmer (Luzern) und Mitunterzeichner eine Motion ein, welche das Problem der Abhängigkeit von Getreideimporten über den Rhein aufwarf, dies mit einem Schwerpunkt auf dem Sachverhalt, dass auf dieser Route in Mannheim, Strassburg und Kehl «weit grössere Posten schweizerischen Getreides auf Lager gelegt sind, als in unsern sämtlichen schweizerischen Lagerhäusern zusammen». Diese Lager wären «im Falle eines Krieges des Dreibundes […] wohl für uns verloren.»38

      Ende Oktober befasste sich dann die Landesregierung auf Antrag des Schweizerischen Militärdepartements (SMD), das einen «ganz konfidenziellen» Bericht unterbreitete, mit der «Brotversorgung der Schweiz», und zwar mit Bezug auf die grundsätzlichen Optionen der Schweiz in einem künftigen Krieg. Man dürfe, so das SMD, «zwar auch hier nicht allzu schwarz sehen» und müsse sich vor allem «klar machen, dass eine völlige Einkreisung der Schweiz durch Abschneidung aller Getreidefuhren zwar wohl für eine gewisse Übergangszeit möglich ist, dagegen nicht auf eine längere Dauer vorauszusehen ist». Die politische Lage werde es «naturgemäss mit sich bringen, dass nach relativ kurzer Zeit seit dem Ausbruch von Feindseligkeiten eine Annäherung der Schweiz nach irgend einer Seite eintritt». Denn «eine Schweiz im Kampfe gegen alle vier Grenzmächte ist undenkbar und eine Schweiz als dauernd unbeteiligte und neutrale Insel inmitten der Brandung des europäischen Krieges im höchsten Grade unwahrscheinlich. Hat aber einmal nach irgendeiner Seite eine Annäherung stattgefunden, so hört dort die Getreidesperre auf. Praktisch kann es sich also nur darum handeln, dass wir für eine gewisse Übergangszeit vorgesorgt seien.»39 Der Bundesrat folgte diesem Bericht und beschloss einige Massnahmen, welche die Situation nicht effektiv veränderten.40

      Vom Rohstoffimport abhängig: die Verarbeitung von Aluminiumblech zugunsten der Armee in der Eidgenössischen Konstruktionswerkstätte in Thun (Bild: BAR, wikimedia).

      Die fatalistische Meinung, die Schweiz müsse sich nach einer «gewissen Übergangszeit» sowieso einer kriegführenden Mächteallianz anschliessen, entlastete die Behörden und auch interessierte Wirtschaftskreise von einervertieften Auseinandersetzung mit dem Problem. So fällt die Bilanz der Vorbereitungen, bezogen auf das dreistufige Raster, das Jöhr vorgeschlagen hatte, schlecht aus. Was seinen ersten Punkt betrifft, so war die Vorratshaltung auf allen Ebenen krass unterdotiert. Weit wichtiger war aber die Tatsache, dass die Möglichkeiten der Schweiz, sich mit einer aussenwirtschaftlichen Mischung aus Opportunismus, Nützlichkeit und attraktiven Angeboten einen Anpassungsspielraum zu sichern, das heisst auch jenen «Machtbestand» auszuspielen, auf den Geering hingewiesen hatte, auf der militärischen Führungsebene kaum erkannt wurden. Bundesrat, Administration und Diplomatie machten sich zwar daran, die nach 1914 völkerrechtlich fluide gewordene Neutralitätsmaxime unter erschwerten Bedingungen neu auszuhandeln und die Nicht-Kriegsbeteiligung der Schweiz zu einem nationalen Geschäftsmodell auszubauen. Dies geschah allerdings in einer wenig systematischen Weise. Vielmehr schoss mit der anziehenden Kriegskonjunktur ein Wildwuchs privater Initiativen ins Kraut, der vielfach sowohl mit schweizerischen Gesetzesbestimmungen wie mit den Kontrollmassnahmen der Kriegführenden in


Скачать книгу