Doch, es gibt eine andere Wirklichkeit. Pierre Ferrière
unserer Zeitgenossen so nahe sein lässt. Denn viele Menschen leben heute ihr inneres Suchen in respektvoller Distanz zu den „etablierten“ Religionen.
Als Etty am 5. Juni 1943 Amsterdam für immer in Richtung Westerbork verließ – ohne Rückfahrkarte sozusagen –, war unter ihren persönlichen Habseligkeiten eine Korbtasche mit dem Koran und dem Talmud … Als sie am 7. September 1943 den Waggon Nr. 12 des Todeszugs Richtung Auschwitz bestieg, war in dem eilig gepackten Beutel eine Bibel …
„Mach den Raum deines Zeltes weit, spann deine Zelttücher aus, ohne zu sparen. Mach die Stricke lang und die Pflöcke fest“, heißt es beim Propheten Jesaja (54,2). Ettys Leben ist ein leuchtendes Beispiel für ein solches „Weitwerden“ und „Sich-Festmachen“.
WEGWEISENDE IMPULSE
Etty Hillesum hätte wohl nur schmunzeln können bei der Vorstellung, einmal zu einer Art „geistlicher Wegbegleiterin“ zu werden, die einführt ins Gespräch mit Gott. Gewiss, von ihren Gebetsworten können wir viel lernen. Viele Stellen ihrer Aufzeichnungen verdienten, in eine Anthologie aufgenommen zu werden: Es gibt Texte von atemberaubender Schönheit und einem herzerweiternden großen Atem … Auf einige solcher Stellen werden wir eingehen. Doch zunächst einige Hinweise zu einer sehr grundsätzlichen Frage, die bei der Lektüre ihrer Aufzeichnungen wach wird: Wo beginnt und wo endet eigentlich Ettys Beten?
Wenn Etty sagt, sie wolle in aller Einfachheit verfügbar sein und selbst der „Kampfplatz“ sein, wo die Fragen und Nöte ihrer Zeit zum Frieden finden, betet sie da?
Wenn sie dem „ewigen Mond“ ausgefallene Reden hält, wenn sie mehr schlecht als recht versucht, irgendwie ihr inneres Auf und Ab zu bestehen, betet sie da?
Wenn Etty sich dem Risiko aussetzt, den verwirrenden, bedrängenden Fragen, die sie manchmal überkommen, nicht auszuweichen; wenn sie wagt, mit einem zum engen Freund gewordenen Mann die „erfüllende“ Freude über eine innige Beziehung zu genießen, ist das auch eine Form ihrer Gottesbeziehung? Betet sie da?
Wenn sie inmitten des Ratterns der Schreibmaschinen im Schreibsaal kurzzeitig alles um sich herum vergisst, um sich zu sammeln, betet sie da?
Wenn sie sich daranmacht, die Worte festzuhalten, die eine hochschwangere Frau unmittelbar vor der Deportation mit leiser, müder Stimme ausspricht, betet sie da?
Verfügbar sein, suchen, wie man leben soll, sich aussetzen, sich entziehen, da sein … – ist das Beten? Und weiter: weinen, sich freuen, zweifeln, tanzen, warten, singen, kämpfen, atmen, schreiben, geboren werden … – ist das Beten?
Eines Tages wurde Etty von einem unwiderstehlichen Impuls erfasst, der sie selbst überrascht hat: Spontan kniet sie nieder auf dem Sisalteppich im Bad, das Gesicht zwischen ihren Händen. Sie durchlebt eine innige Erfahrung, von der zu sprechen sie sich scheut. Das Wort „Gebet“ wirkt allzu blass und fad, um diese Geste des Niederkniens zu beschreiben; der bloße Gedanke an diesen Moment rührt „an das Intimste des Intimsten“, das ein Mensch erleben kann, wie sie sagt (NG 334). Ja, gibt es eigentlich etwas „so Intimes, etwas so Inniges wie die Beziehung eines Menschens mit Gott“?
„Das Intimste des Intimsten“, diese Formulierung mit doppeltem Superlativ ist Ettys Versuch, das durch eine unbeschreibliche Erfahrung „geheiligte“ Herz sprachlich zu fassen. Zögernd und mit aller Vorsicht lässt sie diesen Moment anklingen, in der Furcht, die unzulänglichen Worte könnten ihn seiner Schönheit berauben.
Man ahnt, dass es bei einem „Weg mit Etty Hillesum“, den wir in diesem Buch gehen wollen, um alles andere geht als um bekannte, vielleicht gar abgedroschene Gebetsformeln. Da gibt es weder glattgeschliffene noch gekünstelte Formulierungen. Der Weg mit ihr ist auch keine fromme Wallfahrt, deren Etappen im Vorhinein festgelegt sind. Mit Etty einen Weg der Meditation und des Gebetes gehen, das ist ein Abenteuer: Es ist verbunden mit der womöglich irritierenden Einladung, all das, was wir sind und was unser Leben ausmacht, jener „intimen Präsenz“ hinzuhalten. Gott soll von nichts ausgeschlossen werden, was wir sind und was uns widerfährt. Wundern wir uns nicht, dass der hier vorgeschlagene Weg unterschiedlichste Themen berührt, von der Beziehung zu unserer Familie über die zu unserem Körper bis hin zum Umgang mit dem Tod … Denn sosehr Beten auch beinhaltet, freie Zeiten und geeignete Orte zu finden, um in sich hineinzuhören und Gott „von Herz zu Herz“ zu begegnen, so bedeutet es ebenso, in einer inneren Disposition zu leben und zu bleiben, die es ermöglicht, dass das göttliche Geheimnis das gesamte Leben erfasst. Früher sprach man davon, dass man seine Gebete „verrichte“; Ettys Leben sagt uns, dass es darum geht, selber ein lebendiges Gebet zu werden. Wo immer wir persönlich gerade stehen, Etty Hillesum würde uns sagen:
„Ist es nicht wahr,
dass wir überall beten können,
in einer Baracke aus Brettern ebenso gut
wie in einem beschaulichen Kloster,
und generell an jedem Ort der Erde,
wo Gott in diesen düsteren Zeiten
seine Geschöpfe hingestellt hat?“ (VB 263).
Beginnen wir den Weg mit dieser jungen Frau, wissend, dass es keine gewöhnliche Meditation sein wird …
Meditationen zu Texten von Etty Hillesum
I – Ich mit meiner „verstopften Seele“
„Da saß ich nun bei ihm [bei Julius Spier] mit meiner ‚verstopften Seele‘. Er sollte Ordnung in das innere Chaos bringen, die Leitung über die in mir wirkenden widersprüchlichen inneren Kräfte übernehmen. Er nahm mich sozusagen an die Hand und sagte: Schau her, so musst du leben! – Mein Leben lang hatte ich den Wunsch: Käme doch nur jemand, der mich an die Hand nähme und sich mit mir befasste; ich scheine tüchtig zu sein und mache alles allein, aber ich würde mich so schrecklich gern ausliefern! Und da kam nun dieser wildfremde Herr S. mit seinem komplizierten Gesicht und widmete sich mir; schon in einer Woche hatte er Wunder bei mir bewirkt. Gymnastik, Atemübungen, erhellende, erlösende Worte über meine Depressionen, mein Verhältnis zu anderen usw. Und ich lebte plötzlich anders, befreiter, flüssiger, das Gefühl der Verstopfung verschwand, im Inneren stellte sich eine gewisse Ordnung und Ruhe ein, vorläufig alles noch unter dem Einfluss seiner magischen Persönlichkeit, aber es wird sicher bald auch in der Psyche greifen und zu einem bewussten Akt werden“ (VB 12f, vgl. DDH 16).
So schildert Etty die Ausgangslage ihres Wegs der „Wiederherstellung“ und der Erweckung zu einem neuen Leben. Es war ein erstaunlich schnell durcheilter Weg, auf dem sie mit großen Schritten vorankam. Keine drei Jahre liegen zwischen der ersten Sitzung bei Julius Spier, den sie in ihren Aufzeichnungen einfach nur „Herr S.“ nennt, und jenem 30. November 1943, an dem sie nach einer Mitteilung des Roten Kreuzes im Vernichtungslager Auschwitz starb.
Auch wenn es Etty weder an Sensibilität noch an Intelligenz mangelte, so deutete doch erst einmal nichts auf die gewaltige, nachhaltige Veränderung hin, die sie erfahren hat. Sie selbst schrieb: „Bei vielen Problemen des Lebens mache ich einen sehr überlegenen Eindruck, und dennoch: Ganz tief in mir steckt ein geballter Kloß, irgendetwas hält mich fest im Griff, sodass ich manchmal trotz allen klaren Denkens nur ein ängstlicher armer Schlucker bin“ (DDH 13). Dies ist der Ausgangspunkt; hier beginnen ihre Tagebuchnotizen. Etty ist damals 27 Jahre alt.
Mal wurde sie „Don Quichotte im Unterrock“ genannt (von ihrem Vater!), mal mit einer „russischen Carmen“ verglichen (von einem Schweizer auf der Durchreise); auch als „junge, wilde Kirghisin“ hat man sie bezeichnet. Die lebendige, begabte junge Frau war psychisch nicht sehr stabil und litt unter häufig wiederkehrenden depressiven Phasen. An Beziehungen fehlte es ihr keineswegs, doch sie lebte diese sehr chaotisch und hatte so manche Liaison. Das Verhältnis zu ihren Eltern war reichlich stürmisch … Diese