Es existiert. Johannes Huber

Es existiert - Johannes Huber


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ist rasant. Die Fähigkeit, das Schnelle in Bleibendes zu verwandeln, ist dagegen geradezu dürftig. Ein Nachteil, keine Frage. Allerdings ist dieser Gegensatz auch wieder irrelevant. Er mischt Äpfel, die schneller wachsen als früher, mit Birnen, die weniger Fruchtfleisch haben als vorher.

      Wenn wir davon ausgehen, dass ein Neuron in seiner Arbeit trainiert werden kann und dass das Training über die Epigenetik in die nächste Generation weitergegeben werden kann, worauf wir in einem späteren Kapitel noch genau eingehen werden, dann muss man sagen: Die Reaktionsgeschwindigkeit und die Arbeitsleistung einer Nervenzelle wird dadurch natürlich verbessert. Ob sie sich dann positiv oder negativ auf das gesamte Weltbild auswirkt, ist eine andere Frage.

      Wir haben es hier mit zwei Faktoren einer somatischen, also einer körperlichen Veränderung zu tun. Durch die Insulinresistenz haben wir einen größeren Muskel, und wir haben gleichzeitig ein Training, das den größeren Muskel noch mehr auf Vordermann bringt. Ob man mit den Muskeln dann wirklich denkstärker, gescheiter wird, ist eine Wahrscheinlichkeit, eine Vermutung, aber mit Sicherheit eine Hoffnung.

      Der dritte Pfeiler, der die Transformation zum neuen Menschen trägt, ist das Reisen. Genauer gesagt: die enormen Möglichkeiten, innerhalb eines Tages um die halbe Welt zu fliegen und damit neue sogenannte Place Cells und Time Cells zu produzieren.

      Die Natur spiegelt sich im Gehirn. Die Umwelt hinterlässt dort ihren Abdruck. Das heißt, die Umgebung setzt neue Marker im Kopf. Von jedem Ort, an dem ein Mensch ist, macht der Körper sozusagen ein Bild. Ein Foto in Form eines Neurons.

      Erstes Mal in Lignano, neues Neuron. Erstes Mal am Meer, neues Neuron. Erstes Mal im Riesenrad, neues Neuron. Erstes Mal in Linz, neues Neuron. Erstes Mal in New York, neues Neuron, neues Neuron, neues Neuron. Manche Leute haben Landkarten daheim hängen und stecken Nadeln an die Orte, an denen sie schon waren. Genau dieselbe Landkarte tragen wir in uns und ständig mit uns herum.

      Wenn man möchte, kann man sich das Gehirn als ein unfassbar großes Fotoalbum vorstellen, und dieses Neuronen-Album hat einen unschätzbaren Wert, nicht bloß einen ideellen, wie jedes andere persönliche Fotoalbum. Es hat einen Wert für die menschliche Entwicklung, und sich dafür sogar einen Nobelpreis verdient. Der Nobelpreis 2014 ging an die Entdecker der sogenannten Place Cells.

      Eine Hälfte der Auszeichnung hat sich der amerikanische Neurowissenschaftler John O‹Keefe schon seit 1971 erarbeitet. Damals hat er einen ersten Teil des inneren Navigationssystems von Mensch und Tier beschrieben, die sogenannten Platz-Zellen.

      Die zweite Hälfte der weltweit höchsten wissenschaftlichen Anerkennung des Jahres 2014 bekam das norwegische Hirnforscherpaar May-Britt und Edvard Moser, das in Trondheim arbeitet. Bei Versuchen mit Ratten entdeckten sie 2005 die sogenannten Koordinaten-Zellen, die eine Art Positionierungssystem im Gehirn bilden und die räumliche Orientierung und das Finden eines Weges erleichtern.

      Place Cells sind also so etwas wie ein von der Natur eingebautes Navi im Gehirn.

      Den richtigen Weg zu finden, ist eine feine Sache. Bei den Place Cells geht es aber um viel mehr. Um viel, viel mehr. Durch sie ist überhaupt erst ein menschliches Bewusstsein entstanden. Ohne die Place Cells hätten wir gar kein Gehirn.

      Um es einmal im Schnelldurchlauf zu erklären:

      Pflanzen haben Nervenzellen und können damit auf die Umwelt reagieren, aber sie haben kein Gehirn. Ein Gehirn bildet sich erst mit gezielter Standortveränderung. In dem Moment also, wo Lebewesen in einer Art Zwischenstadium zum Tier anfangen, sich vom Fleck zu bewegen, bekommen sie nicht nur Nerven, sondern auch Nervenbündel, die aggregieren, woraus schließlich ein Gehirn wird.

      Das heißt: Das Gehirn ist durch die Ortsveränderung entstanden, weil für jeden Ort ein neues Neuron angelegt wird.

      Das Lebewesen, an dem man die Place Cells entdeckt hat, ist die Seescheide. Ein Mittelding aus Pflanze und Tier. Genau das macht sie so interessant. Noch dazu entwickeln sich die Seescheiden in unseren Augen eigentlich zurück. Sie mausern sich nicht von der Pflanze zum Tier. Im Gegenteil: In ihrem embryonalen Stadium sind sie Tiere, als Erwachsene werden sie dann zu Pflanzen.

      Die Biographie so einer Seescheide ist rasch erzählt. Als Embryonen schwimmen sie herum und wachsen sich aus. Durch das Herumschwirren bilden sich in ihrem winzigen Nervensystem Place Cells, und die vermehren sich. Je mehr die Junior-Seescheiden herumschwimmen, desto mehr Place Cells produzieren sie, und das geht munter so weiter, bis sie fertige Seescheiden sind. Bald darauf stehen sie am Wendepunkt ihres Lebens. Denn irgendwann steht ihnen beim Herumschwimmen plötzlich irgendwas im Weg. Das kann ein Holz sein oder ein Wrackteil, was halt so im Meer herumliegt. Daran bleiben sie hängen und bewegen sich fortan nie wieder. Ohne Ortswechsel bilden sich die Place Cells zurück, bis nur noch einfache Nervenstrukturen davon übrigbleiben, wie die Pflanzen sie haben. Sie sind Pflanzen.

      Gesehen haben die Mosers das im Hippocampus, einem der evolutionär ältesten kortikalen Strukturen des Gehirns. Er befindet sich im Temporallappen und ist eine zentrale Schaltstation des limbischen Systems, nur für den Fall, dass es jemand ganz genau wissen will. Für einen Wissenschaftler gibt es dazu wunderschöne Versuche, die den Vorgang dokumentieren, aber damit will ich den interessierten Laien nicht belästigen.

      Wichtig ist, was aus diesen Beobachtungen geschlossen werden konnte. Ganz offensichtlich ist es wirklich die Bewegung, die die Gehirnaktivität anregt und neue Neurone schafft. Das Ganze hat man danach im Mausversuch weiterverfolgt, was letzten Endes den Nobelpreis eingebracht hat. Die beiden Trondheimer Mediziner haben ihre Mäuse über verschiedene Strecken laufen lassen und mit Sonden im Hippocampus überprüfen können, ob tatsächlich eine Neurogenese stattfindet. Und prompt: Immer, wenn die Maus den Ort gewechselt hat, hat sie ein neues Neuron produziert.

      Weil die Maus sich nur am Boden, also zweidimensional fortbewegt, folgten weitere Versuche mit Fledermäusen. Sie zeigten, dass das innere Navi auch dreidimensional funktioniert. Jede Höhe bekommt zusätzlich ein Neuron, das dem Tier sagt, wie hoch über dem Boden es sich befindet.

      Genau dasselbe Phänomen ereignet sich im menschlichen Gehirn. Ob wir gehen, fahren, fliegen: Wir bilden die Umwelt in unserem Körper ab und legen für jeden Eindruck, den wir bekommen, eine eigene Nervenzelle an. Damit entsteht eine Art Koordinatensystem, das es uns überhaupt erst möglich macht, Entfernungen wahrzunehmen.

      Wenn wir von Ort zu Ort gehen, legen wir eine Distanz zurück. Ohne die dazugehörigen Neurone würden wir sie nicht erkennen. Erst wenn zwei unterschiedliche Neurone an zwei Orten aktiv sind und sich die beiden vergleichen, merken sie: Da liegt ein Stück Weg dazwischen.

      So wie in jedem Navi schon einmal angefahrene Ziele gespeichert sind, wissen auch unsere Place Cells, ob wir schon einmal an einem Ort waren oder nicht. Gibt es kein Neuron, kein Foto dazu, ist es Neuland. Ist der Platz bekannt, wird das entsprechende Neuron aktiviert. Springt eine Place Cell im Hirn auf und ruft Hier kenn ich mich aus!, dann waren wir schon einmal da. Wie erstaunlich einfach, wie unfassbar genial.

      Für mich ist das ein sehr schönes mechanistisches Konstrukt und nicht nur neurologisch interessant. Die Place Cells haben auch etwas Magisches.

      Springen wir in der Zeit ein bisschen zurück. 11.600 Jahre, um genauer zu sein. In die neolithische Revolution, die wir ja schon kennen. Die frühesten Spuren hat sie in der Türkei hinterlassen. Göbekli Tepe heißt der Ort dieser Funde, er liegt auf der Bergkette von Germus. Auch wenn einem das im ersten Moment vielleicht nichts sagt, ist die Gegend doch weltberühmt. Hier hat die Mythologie die Landung der Arche Noah angesiedelt. Hier befindet sich der Berg Ararat.

      Dort hat Noah die Arche geöffnet und mit der neuen Tier- und Pflanzenwelt, die er an Bord hatte, nach der Sintflut alles neu begonnen. Seltsamer Zufall. Die neolithische Revolution trifft sich mit Noahs Entourage für den Neuanfang. Eine Art Magie. Lassen wir es einmal so stehen.

      Magische Plätze haben etwas Göttliches. Sie entstehen oft dort, wo der Mensch seine Götter hat. Die Götter hatten ihren Ort und bei diesem Ort wollte man bleiben. Ein interessanter Aspekt in der Geistesgeschichte und ein springender Punkt in der Evolution. Plätze, an denen die Menschen ihren Göttern Heiligtümern errichtet haben, wollten sie ungern wieder verlassen.

      Vor


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