Existenzielle Psychotherapie. Irvin D. Yalom
Blatt, und er war sehr beschäftigt mit dem Versuch, es wieder auf den Baum zurückzulegen. Als es ihm nicht gelang, das Schicksal des Blattes zu revidieren, beauftragte er seinen Vater, das Blatt wieder am Baum festzumachen. Da David nicht in der Lage war zu sprechen, kann man sich der genauen Natur seiner inneren Erfahrung nicht sicher sein, aber sein Verhalten legt nahe, dass er sich mit dem Begriff des Todes auseinandersetzte. Es ist sicher keine Frage, dass die Begegnung mit dem Tod neuartiges und ungewöhnliches Verhalten hervorrief
Szandor Brant, ein Psychologe, berichtet von einem Vorfall, an dem sein Sohn Michael im Alter von zwei Jahren und drei Monaten beteiligt war.25 Michael, der von seiner Flasche ein Jahr lang entwöhnt worden war, fing an, mehrmals in der Nacht aufzuwachen und hysterisch nach der Flasche zu schreien. Als man ihn fragte, bestand Michael darauf, dass er die Flasche haben müsse, oder »ich werde nicht in Gang kommen«, »mir wird das Benzin ausgehen«, »mein Motor wird nicht laufen, und ich werde sterben.« Sein Vater sagt, dass bei zwei Gelegenheiten unmittelbar vor Michaels Aufwachen in der Nacht bei einem Auto im Beisein des Kindes das Benzin ausgegangen war und es viele Diskussionen darüber gab, wie der Motor »gestorben« war, und wie die Batterie dazu kam, »tot« zu sein. Michael schien überzeugt zu sein, so schließt sein Vater, dass er weiter Flüssigkeit trinken müsse, sonst würde er auch sterben. Michaels sichtbare Besorgnis über den Tod hatte sogar früher in seinem Leben begonnen, als er eine Fotografie von einem toten Verwandten sah und endlose Fragen an seine Eltern über den Status dieses Verwandten richtete. Michaels Geschichte deutet darauf hin, dass der Tod eine Quelle großen Kummers für das sehr junge Kind sein kann. Darüber hinaus erkannte Michael, was auch für den vorherigen Fall gilt, in einem sehr frühen Alter den Tod als ein Problem – vielleicht, wie Kastenbaum nahelegt, das erste vitale Problem und ein Hauptanstoß für kontinuierliche geistige Entwicklung.26
Gregory Rochlin schließt auf der Grundlage mehrerer Spielsitzungen mit einer Reihe normaler Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren ebenfalls, dass das Kind im sehr frühen Alter lernt, dass das Leben ein Ende hat, und dass der Tod für es selbst ebenso wie für jene kommen wird, von denen es abhängt.
Meine eigenen Untersuchungen haben gezeigt, dass das Wissen vom Tod, einschließlich der Möglichkeit des eigenen Todes, in einem sehr frühen Alter erworben wird, und zwar weit früher, als normalerweise vermutet. Im Alter von drei Jahren ist die Angst vor dem eigenen Tod auf eindeutige Weise mitteilbar. Wieviel früher als im Alter von drei Jahren diese Information erworben wird, ist eine Angelegenheit wenig stichhaltiger Spekulation. Die Verständigung mit einem jüngeren Kind über dieses Thema ist unwahrscheinlich. Sie wäre auch zu fragmentarisch. Wichtiger ist, dass der Tod in einem Kind von drei Jahren bereits als eine Furcht, als eine Möglichkeit angefangen hat, wesentliche Wirkungen zu erzeugen.27
Der Beweis steht jedem, der bereit ist, Kindern zuzuhören und ihr Spiel zu beobachten, leicht zur Verfügung, stellt Rochlin fest.28 Überall auf der Welt spielen die Kinder Spiele von Tod und Auferstehung. Es gibt viele Gelegenheiten, etwas über den Tod zu lernen. Eine Fahrt zum Fleischmarkt sagt jedem Kind mehr, als es zu wissen wünscht. Möglicherweise bedarf es keiner Erfahrung; möglicherweise hat, wie Max Scheler behauptet,29 jeder von uns ein intuitives Wissen vom Tod. Ungeachtet der Quelle des Wissens ist jedoch eines sicher: Die Tendenz, den Tod zu verleugnen, sitzt tief in jedem von uns, sogar im frühen Lebensalter. Das Wissen wird aufgegeben, wenn unsere Wünsche dem entgegenstehen.
Wenn die Realität mit Macht hereinbricht, wanken die noch jungen todesverleugnenden Abwehrmechanismen und erlauben es der Angst durchzubrechen. Rochlin beschreibt einen dreieinhalbjährigen Jungen, der seine Eltern mehrere Monate lang immer wieder gefragt hat, wann er oder sie sterben würden.30 Man hörte ihn murmeln, dass er selbst nicht sterben würde. Dann starb sein Großvater. (Dieser Großvater lebte in einer entfernten Stadt und war dem Kind kaum bekannt.) Der Junge begann, häufige Albträume zu haben und verzögerte das Schlafengehen regelmäßig; er setzte offensichtlich das Schlafengehen mit dem Tod gleich. Er fragte, ob es wehtun würde zu sterben, und sagte, dass er Angst hatte zu sterben. Sein Spiel deutete auf seine Beschäftigung mit Krankheit, Tod, Töten und Getötet-Werden hin. Obwohl es schwierig ist, mit Sicherheit zu wissen, was »Tod« für die innere Welt des präoperationalen Kindes bedeutete, schien es, dass dieses Kind viel Angst mit ihm assoziierte: Tod bedeutete, in die Kloake geschüttet zu werden, verletzt zu werden, zu verschwinden, im Abwasserkanal weggeschwemmt zu werden, auf dem Friedhof zu verwesen.
Ein anderes vierjähriges Kind verlor auch einen Großvater, der an seinem dritten Geburtstag starb. Der Junge bestand darauf, dass sein Großvater nicht tot war. Dann, als ihm gesagt wurde, dass sein Großvater an Altersschwäche gestorben sei, wollte er die Versicherung haben, dass seine Mutter und sein Vater nicht alt waren, und erzählte ihnen, dass er nicht älter werden würde. Ein Teil des Transskripts dieser Spielsitzung zeigt sehr deutlich, dass dieses vierjährige Kind »in eine Beziehung mit dem Tod eingetreten war«.
D: Letzte Nacht fand ich eine tote Biene.
Dr.: Sah sie tot aus?
D: Sie wurde getötet. Irgendjemand ist darauf getreten, und daran ist sie gestorben.
Dr.: So tot wie Menschen tot sind?
D: Sie sind tot, aber sie sind nicht wie tote Menschen. Überhaupt nicht wie tote Menschen.
Dr.: Gibt es da einen Unterschied?
D: Menschen sind tot und Bienen sind tot. Aber sie werden in die Erde gelegt und sie sind zu nichts nütze. Menschen.
Dr.: Sind zu nichts nütze?
D: Nach langer Zeit wird sie wieder lebendig werden (die Biene). Aber ein Mensch nicht. Ich will nicht darüber reden.
Dr.: Warum?
D: Weil ich zwei lebende Großväter habe.
Dr.: Zwei?
D: Einen.
Dr.: Was geschah dem anderen?
D: Er starb vor langer Zeit. Vor hundert Jahren.
Dr.: Wirst du auch lange leben?
D: Hundert Jahre.
Dr.: Also was?
D: Ich werde vielleicht sterben.
Dr.: Alle Menschen sterben.
D: Ja, ich auch.
Dr.: Das ist traurig.
D: Ich muss es trotzdem.
Dr.: Du musst?
D: Sicher, mein Vater wird sterben. Das ist traurig.
Dr.: Warum?
D: Kümmern Sie sich nicht drum.
Dr.: Du möchtest nicht darüber sprechen.
D: Ich will jetzt zu meiner Mutter.
Dr.: Ich werde dich zu ihr bringen.
D: Ich weiß, wo tote Menschen sind. Auf Friedhöfen. Mein alter Großvater ist tot. Er kann da nicht mehr weg.
Dr.: Du meinst, von wo er begraben ist.
D: Er kann da nicht mehr weg. Niemals.31
Melanie Klein kommt aufgrund ihrer Erfahrungen bei der Analyse von Kindern zu dem Schluss, dass die sehr jungen Kinder eine intime Beziehung zum Tod haben – eine Beziehung, die sehr viel früher einsetzt als das begriffliche Wissen über den Tod. Die Furcht vor dem Tod ist, so stellt Klein fest, ein Teil der frühesten Lebenserfahrung des Kleinkindes. Sie akzeptiert Freuds Theorie aus dem Jahr 1923, dass es einen universellen unbewussten Todestrieb gibt, aber sie argumentiert, dass, wenn das menschliche Wesen überleben soll, es eine diesen ausgleichende Furcht vor dem Verlust des Lebens geben muss. Klein betrachtet die Furcht vor dem Tod als die ursprüngliche Quelle der Angst; sexuelle Angst und Über-Ich-Angst sind daher Nachzügler und abgeleitete Phänomene.
Meine analytischen Beobachtungen zeigen, dass es im Unbewussten eine Furcht vor der Vernichtung des Lebens gibt. Ich würde auch meinen, dass, wenn wir die Existenz des Todesinstinkts annehmen,