Systemische Personal-, Organisations- und Kulturentwicklung. Bernd Schmid

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worin ihre Kernkompetenzen (Werte, Neigungen, Qualitäten) bestehen und

      • in welchen Rollen, Kontexten und Leistungsbedingungen diese zum Tragen kommen.

      Damit die Organisation Funktionen optimal besetzten kann, muss der unternehmerische Verantwortliche von den beteiligten Personen wissen, ob deren Werte, Identitätsvorstellungen, Qualitäten und Neigungen zur Verantwortung und zu den Kerntätigkeiten passen.

      Frau Flink hat die Funktion, sowohl im Betrieb wie im Haushalt die Betriebsfähigkeit immer wieder herstellen zu helfen. Wäre sie kräftemäßig eingeschränkt, hätte der Betrieb Vorrang. Sie hat alle einfachen Tätigkeiten im Haushalt gelernt und konnte sich besonders gut an wechselnde Erfordernisse und Aufträge anpassen. Durch ihre Verfügbarkeit und dadurch, dass ihr keine Arbeit zu viel und sie sich für keine Arbeit zu gut war, nährte sie ihr berufliches Selbstwertgefühl. Eigenorganisierte und -verantwortete Tätigkeit traute sie sich weniger zu. Ihre Kerntätigkeiten waren Putzen und Hilfstätigkeiten auf Anweisung der Chefin (Frau des Meisters).

      1.1.3.1 Kernkompetenzen

      Jeder Mensch ist einzigartig. Diese Eigenart impliziert Neigungen, welche in bestimmten Fähigkeiten zum Ausdruck kommen und nutzbar gemacht werden können. Die zunehmenden Anforderungen lassen es ratsam erscheinen, diese Eigenart sowohl als Ressource zu nutzen als auch als wenig zu beeinflussende Rahmenbedingung in Betracht ziehen zu lernen. Konstruktivisten gehen davon aus, dass jedes lebendige System – und damit jeder Mensch – ein in sich geschlossenes System ist, welches auf »Überleben, Entwicklung und Vermehrung der Eigenart« ausgerichtet ist. Der jeder Persönlichkeit inhärente Drive kann als schöpferische und unternehmerische Kraft verstanden und als Quelle hervorragender Kompetenzpotenziale betrachtet werden. Auch diese Potenziale gehören zu den Kernkompetenzen. Sie sind der Ausdruck eines bestimmten inneren Zugangs zur Wirklichkeit, der sich in bestimmten individuellen und tief verwurzelten Werten, Begabungen, »Berufungen«, Interessen und Verhaltensneigungen äußert. Dieser Drive ist in Entwicklung begriffen. Man kann ihn nicht ohne Nachteile unter Kontrolle bringen oder in beliebige Richtungen lenken, sondern sollte ihm respektvoll wie einem nur unvollkommen bekanntem Naturereignis begegnen. Diese gestaltende Kraft und Kompetenz wirkt in allem, was Menschen tun, entweder in stimmiger und konstruktiver, oder aber in verstrickter und destruktiver Form. Wichtig für Passungsüberlegungen ist es deshalb, die Kernkompetenzen der Beteiligten zu kennen und vor allem zu wissen, unter welchen Rahmenbedingungen sie zum Tragen kommen und unter welchen nicht. Wenn Mitarbeiter scheitern, geschieht dies oft nicht, weil sie zu wenig können, sondern weil sie sich in Situationen befinden, in denen sie ihre Kernkompetenzen nicht genügend nutzbar machen können.

      1.1.3.2 Identität und Motivation

      Jeder noch seelisch lebendige Mensch will in ein Bild von sich selbst hineinwachsen, in dem er sich gefällt und das bisher noch nicht gelebte Züge der eigenen Persönlichkeit zum Ausdruck bringt. Das Gefühl, dies in einer Umgebung, durch eine Tätigkeit oder in einer Beziehung zu können, wird als eine der mächtigsten Motivationen engagierter Bindung erzeugt. So betrachtet liegt in jeder Kontextwahl, in jeder Handlung und in jeder Beziehungsgestaltung eine Aussage, als wen man sich sieht, wie man sich sehen möchte bzw. befürchtet, gesehen zu werden. Für dieses Verlangen nach Eigenart und Geltung sucht man positive Bestätigung, die in der Wirkung der Handlung oder in den Reaktionen der Umwelt gesucht wird. Wird der Selbstentwurf nicht bestärkt, wird er verworfen oder missbilligt, wird eine Sehnsucht frustriert und ein gesuchter Selbstwert infrage gestellt. Hier kann man mit Motivations-, Beziehungs- und Bindungsproblemen rechnen.

      Bei der Betrachtung von Kernkompetenzen ist also auch zu berücksichtigen, ob diese (noch) zu einer bejahten Identität gehören. Vielleicht gehören sie zu einer beseelenden Identität, die erst am Horizont aufgeht. Nach Identität fragt man meist: Wer bin ich? Und meint damit eine Funktions- oder Tätigkeitsbezeichnung bzw. einen Rang. Noch wenig beachtet wird die in Zeiten fließenden Wechsels von Inhalten, Rollen und Funktionen bedeutsamere Identitätsfrage: Wie bin ich? Hier wird nach dem persönlichen und professionellen Stil gefragt, in dessen Wahrung und Entwicklung man sich sieht bzw. sehen möchte. Zum Beispiel möchte ein bislang mehr sachorientierter Einzelkämpfer ein stärker kommunikativer Mensch werden, in dessen Beziehungen die »weicheren Faktoren« wichtig und befriedigend sind. Eine Funktion, in der dieses kommunikative Selbstbild nicht gefragt ist, wird nicht wirklich mit Herzblut ausgefüllt. Auch hier muss also Passung hergestellt werden, wenn sich die ganze persönliche Kraft in der Funktion versammeln soll. Solche Faktoren werden irgendwie in der Personarbeit und in Führungsbeziehungen intuitiv berücksichtigt, doch wäre hier mehr bewusste Kompetenz auf allen Seiten hilfreich. Dies hilft, solche Dimensionen im Gespräch überhaupt zu berücksichtigen und bei krisenhaften Entwicklungen günstige Voraussetzungen für Klärungen zu schaffen.

      1.2 Herausforderungen im Passungsprozess

      Passung herzustellen ist keine einmalige Aufgabe, sondern ein kontinuierlicher Prozess, in welchem ein dynamisches und labiles System laufend ausbalanciert werden muss. Eine Funktion findet in einem konstanten Spannungsfeld zwischen den Vorstellungen (SOLL) der Organisation (resp. des unternehmerisch Verantwortlichen) und dem tatsächlichen Handeln (IST) des Funktionsträgers (und seiner Partner) statt. Darin, diesen Unterschied wahrzunehmen und die potenziellen Spannungen so fruchtbar zu halten, damit eine optimale Performance entstehen kann, liegt die eigentliche Kunst des Passungsprozesses.

      Im soweit entwickelten Beispiel von Frau Flink und dem Familienunternehmen Fa. Adrett ist die Passung zunächst optimal. Die Entwicklungen im Betrieb passen zu ihren Funktionen und diese zu ihren Kompetenzen und Entwicklungswünschen. Wegen der gesundheitlichen Belastungen der Frau des Meisters der Fa. Adrett muss neuerdings auch die Essensversorgung der Belegschaft durch eine andere Person bewerkstelligt werden. Zudem müsste nun der Haushalt viel selbständiger versorgt werden. Die Idee, Frau Flink könnte zusätzlich das Kochen übernehmen, greift bei ihr nach einigem Zögern, ob sie sich das zutrauen könne. Mit ihren ersten Versuchen findet sie Beifall bei der Belegschaft.

      Vier Dimensionen sind für die Passung von besonderer Bedeutung und oft Ursachen dafür, dass mit Differenzen zwischen IST und SOLL nicht sinnvoll umgegangen wird.

      1.2.1 Individuelle Kernkompetenzen und Funktion

      Kernkompetenzen beinhalten eine im weitesten Sinne »unternehmerische, wirklichkeits-konstruierende« Kraft. Mitarbeiter, die nicht ihren Kernkompetenzen entsprechend eingesetzt sind, entwickeln deshalb – meist unbewusst – »Schwarzmärkte«, in welchen ihre Kernkompetenzen, aber auch andere kerngeschäftsferne Interessen ihren Ausdruck finden können. Dies ist eine »ergiebige« Quelle von Effektivitätsverlusten bezogen auf die eigentlichen Geschäftszwecke einer Organisation.

      Es liegt in der Natur der Sache, dass die Abstimmung zwischen angedachter und »gelebter« Funktion nie 100-prozentig sein kann. Abweichungen sind natürlich und für die Lebendigkeit und Lernfähigkeit einer Organisation wichtig. So scheint es manchmal sogar, dass Organisationen in Innovationsprozessen, die wenig an die vorhandene Kultur und an verfügbare Ressourcen anschließen, oft nur dank erheblicher »Schwarzmarktaktivitäten« im Sinne des Kerngeschäftsverständnisses der Mitarbeiter überhaupt überleben können. Dennoch sollte zugunsten der offenen Klärung und Steuerbarkeit »Weißmärkten« der Vorzug gegeben werden. »Weißmärkte« meint, dass die Personen ihre Kernkompetenzen in den Dienst der offiziellen Wertschöpfungsprozesse stellen können.

      Wenn Mitarbeiter ihre Funktion nicht oder nicht mehr so gut ausfüllen, wie das für die Organisation erforderlich ist, denkt man leicht an fehlende persönliche Motivation, Loyalität oder Kompetenz. Seltener werden Entwicklungen im Passungskreis näher analysiert. Dabei können unbeachtete Veränderungen und deren Wechselwirkungen zu erheblichen Schwierigkeiten und zur Infragestellung der Kompetenz eines Mitarbeiters führen.

      Zum Beispiel wurde der Leiter einer Entwicklungsabteilung als »Problemfall« angesehen und vor seiner »Entsorgung« zum Coaching vorgestellt. Schnell stellt sich heraus, dass er gut und für sich stimmig gearbeitet hat, solange er für sehr komplexe Entwicklungen


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