Der holistische Mensch. Johannes Huber

Der holistische Mensch - Johannes Huber


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ihn schon in Form von zwei getrennten Erbinformationen in seiner Mutter und seinem Vater bereits gegeben. Nein, die Generationen vor ihm haben schon durch ihr Handeln und Lassen die Baustelle ihres Kindes vorbereitet.

      Organe kommunizieren miteinander, selbst der Knochen meldet sich und plaudert mit den Hoden, plaudert mit der weiblichen Brust, mit dem Gehirn sowieso. In allem ist Licht und Finsternis. Sex macht jung und Sex macht alt. Schwangerschaften sind eine Belastung, können aber das Leben verlängern. Kinder haben auch Teile ihrer älteren Geschwister in sich.

      Im Großen und Ganzen ist der Mensch kompliziert und komplex. Viel mehr als die Summe seiner Organe, mehr als eine biologische Masse aus Muskeln, Sehnen, Haut und Knochen. Holistische Betrachtung heißt, gleichzeitig mit dem Mikroskop näher zu rücken und geistig zwei Schritte zurückzutreten. Das Kleine wie auch das Große sehen. Die Mücke und den Elefanten. Das Bekannte wie das Unsichtbare. Forschen heißt, Fragen zu stellen und Antworten zu suchen. Dazu braucht es den Geist der Neugierde und den Mut, bekannte Pfade zu verlassen. Man muss Wege finden, um den Holismus unseres Körpers zu begreifen.

      Manche Hardliner und selbsternannte Wissens-Monopolisten unter den Medizinern kommen mir vor wie Fiakerpferde. Stur tragen sie ihre Scheuklappen und sehen nur die gepflasterte Straße vor sich, keine Quergassen, keine Parallelstraßen, keine Straßennetze. Nie machen sie einen Blick nach hinten oder zur Seite oder nach oben. So stehen ihnen auch nie 360 Grad Rundumblick zur Verfügung.

      Beim Medicinicum Lech 2017 wurde mehrmals die Frage gestellt, warum so viele Menschen den schulmedizinischen Methoden skeptisch gegenüberstehen und sich der chinesischen Medizin oder Ayurveda zuwenden. Die Schwäche unserer Schulmedizin ist ihre Spezialisierung. Aber die ist auch ihre größte Stärke. Mithilfe von Spezialisierungen hat die Schulmedizin die großartigsten Dinge zuwege gebracht.

      1928 legte der Bakteriologe Sir Alexander Fleming vom Londoner St. Mary’s Hospital mehrere Nährbodenplatten mit Staphylokokken an und ließ diese Bakterien auf einem Stapel in der Ecke des Labors zurück. Dann fuhr er in die Sommerferien. Nach seiner Rückkehr ins Krankenhaus entdeckte er, dass auf dem Nährboden einer der Platten auch ein Schimmelpilz gewachsen war, in dessen unmittelbarer Nähe sich die Staphylokokken nicht vermehrt hatten. Endlich hatte er den Weg gefunden, wie sich Bakterien bekämpfen lassen. Zum ersten Antibiotikum war es nicht mehr weit. Jetzt durfte Fleming nicht lockerlassen, sondern musste weiter und weiter forschen und vor allem andere spezialisierte Kollegen auf seine Entdeckung aufmerksam machen. Eine Entdeckung, die unzählbare, wirklich unzählbare Leben gerettet hat.

      Dreht man das Rad der Zeit noch weiter zurück, offenbart sich eine andere medizinische Meisterleistung, ebenfalls geboren aus dem sogenannten Zufall und weiterentwickelt mit dem Geist der Forschung: 1844 besuchte der Zahnarzt Horace Wells die Vorstellung einer Wanderbühne, bei der Freiwillige als Attraktion Lachgas einatmen konnten. Während der Vorstellung beobachtete Wells, dass eine der Versuchspersonen sich eine klaffende Wunde am Unterschenkel zuzog, ohne die geringste Schmerzreaktion zu zeigen. Daraufhin begann Wells mit Lachgas und anderen Inhalationsnarkotika zu experimentieren. Als er seine Entdeckung öffentlich vorführen wollte, ist er wegen einer falschen Dosierung kläglich gescheitert, ruinierte seinen Ruf und wurde chloroformsüchtig. Sein Mitarbeiter William Morton war glücklicher. Ihm ist eine öffentliche Vorführung gelungen. Er wurde berühmt. Auf jeden Fall war das Tor für die chirurgische Lebensrettung geöffnet.

      Die Liste der Wunder ist lang, die Zufriedenheit der Patienten eher kurz. Wenn überhaupt. Die Gründe sind vielfältig: Oft sind es nur die wenigen Minuten, die sich der Schulmediziner den Damen und Herren widmen kann. Mitunter sind es unerfüllbare Wünsche oder Hoffnungen schwerkranker Menschen. Und häufig ist es einfach nur Unbehagen, ein leises Gefühl der Unsicherheit. Man sitzt im Wartezimmer und befürchtet, dass die hochspezialisierte Schulmedizin vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht, sich nur auf das fachärztliche Organ konzentriert, und dass die Ganzheitlichkeit der Heilkunst beim Teufel ist. Der Skeptiker nennt das Scheuklappenmedizin.

      Holismus heißt aber, sich immer wieder aufs Neue umzusehen und Zusammenhänge zu erkennen, nicht Pferdeäpfel auf dem Asphalt, sondern die Straße, die Stadt, das Land, den Kontinent, den Planeten, das Weltall, die Milchstraße, das Universum und was vielleicht dahintersteckt. Den Mikrokosmos, den Mesokosmos, den Makrokosmos. Die holistische Verschränkung. Die Zahnräder des Seins und die Kanten dessen, was wir Schicksal nennen. Bis zu den Rändern des Verstands und darüber hinaus.

      Dazu eine Anekdote: Der Wiener Erzbischof, Franz Kardinal König, musste wie alle anderen auch auf seine Gesundheit achten. Sein Leibarzt, ein gewisser Willibald Polterauer, besuchte seinen Patienten dann und wann. Ich habe damals Medizin und Theologie studiert und arbeitete als Sekretär des Kardinals. Natürlich konnte ich es mir nicht entgehen lassen, mit dem Leibarzt meines Chefs so oft wie möglich ein paar Worte zu wechseln. Dass er über große Erfahrung verfügte, war schon in seinen kleinsten Bemerkungen zu spüren. Einmal meinte Polterauer:

      »Ein guter Arzt weiß, dass unser Körper ein sehr gutes Gedächtnis hat. Er merkt sich vieles, auch über Jahrzehnte, aus der Kindheit und, könnte man weiterdenken, vielleicht auch aus der Zeit davor.«

      Wir haben über Zusammenhänge gesprochen, die den Körper im Laufe der Zeit beeinflussen. Und über Verschränkungen, die im Körper alle gleichzeitig passieren. Was passiert mit dem einen Organ, wenn ein anderes Organ sich plötzlich anders benimmt als sonst? Ist die Erinnerung des Körpers das, was ihn mit der Ewigkeit verbindet? Wie weit reicht die Erinnerung?

      Offensichtlich gibt es diese Verschränkung nicht nur in der Medizin, sondern, wenn auch in ähnlicher Art, in der Physik.

      Spätestens seit dem Jahr 2016 macht ein chinesisch-österreichisches Projekt Schlagzeilen. Und gerade vor Kurzem, am 29. September 2017, sind es noch mal viel mehr Schlagzeilen geworden, als der österreichische Quantenphysiker Anton Zeilinger in Wien zur öffentlichen Vorstellung der Früchte seiner Arbeit und der Arbeit seiner chinesischen Kolleginnen und Kollegen lud. Zwischen Wien und Peking wurde eine »spukhafte« Telefonverbindung hergestellt. Ein Wunder der Verschränkung.

      Es geht um die Verschränkung von Quanten. Schon Albert Einstein hatte dieses Phänomen angenommen und treffend als »spukhafte Fernwirkung« bezeichnet.

      Zwei Quanten, zum Beispiel Photonen, also Lichtteilchen, können nach den Gesetzen der Quantenphysik einen gemeinsamen Zustand annehmen. Diese Verschränkung bleibt auch dann erhalten, wenn man die beiden Teilchen räumlich trennt.

      Wird eines der beiden Teilchen anschließend verändert, etwa indem man es mit einem weiteren Photon verschränkt, ändert sich der Quantenzustand des entfernten Partners automatisch. Dieses Prinzip funktioniert sogar über unglaubliche Distanzen von tausenden Kilometern, also auch zwischen Wien und Peking. Die Information wird gleichsam gebeamt. Nein, das trifft es nicht. Die Information ist zugleich an dem einen und an dem anderen Ort.

      Das Projekt heißt Quantum Experiments at Space Scale, kurz QUESS. Nach ersten Versuchen auf dem Erdboden in China wurde im Sommer 2016 der erste Satellit in den Weltraum gesandt, der die Möglichkeit der Quantenverschränkung auch zwischen Weltraum und Erde aufgezeigt hat. Vereinfacht bedeutet das: Wenn alles nach Plan läuft, gibt es bald eine völlig neue, extrem schnelle Art des Internets. Anton Zeilinger formuliert den philosophischen Hintergrund in einem Interview so:

      »Wichtiger als die Konzepte Raum und Zeit ist das Konzept der Information, und Information ist offenbar unabhängig von Raum und Zeit. Das heißt, die Information liegt vor, dass beide Systeme gleich sein müssen, auch wenn sie vor der Beobachtung noch keine vordefinierten Eigenschaften besitzen und obwohl sie keine Verbindung haben. Für mich deutet das in die Richtung, dass Information fundamentaler ist als alle anderen Konzepte. Schon das Johannes-Evangelium beginnt mit: Am Anfang war das Wort. Das kann ich auch mit Information übersetzen.«

      Am Anfang war also die Information.

      Die Romantik hatte das bereits in poetische Worte gekleidet. So dichtet Joseph von Eichendorff:

      Schläft ein Lied in allen Dingen,

      Die da träumen fort und fort,

      Und die Welt fängt an zu singen,

      Triffst du nur das Zauberwort.


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