Der holistische Mensch. Johannes Huber

Der holistische Mensch - Johannes Huber


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nur für den Schein. Sie macht alles für das Sein.

      Schönheit allein hat keinen richtigen Nutzen. Die Verjüngung schon. Um die Art zu erhalten, braucht es gesunde, junge, starke Lebewesen, das ist beim Homo sapiens nicht anders.

      Nun hat der Mensch aber auch seine guten und schlechten Phasen, und ab einem gewissen Alter ist er zwar noch fähig, sich fortzupflanzen, aber nicht mehr ganz so gesund, ganz so jung und ganz so stark, wie es die Natur sich vorstellt. Also hilft sie nach. Ihr vorderster Komplize dabei ist ein ganz junger holistischer Mitkämpfer: das Spermidin.

      Einmal ganz unmedizinisch porträtiert, ist das Spermidin eine Art Fitnesscoach der Geschlechtspartner. Ein Verjüngungs-Elixier. Ein automatischer Rundumerneuerer des menschlichen Organismus. Die Sprinkleranlage eines inneren Jungbrunnens.

      Warum die Natur dieses körpereigene Wellnessstudio eingerichtet hat, ist leicht zu erahnen. Es dient wieder einmal dem Nachwuchs. Mann und Frau sollen so lang wie möglich nicht nur beisammen, sondern auch am Leben sein, wenn sie ein Kind zeugen, in die Welt setzen und aufziehen.

      Vor allem dem weiblichen Organismus verlangt die Fortpflanzung viel ab. Das gesamte Organsystem ist beeinflusst, Herz, Stoffwechsel, Immunsystem. Und doch ist sie selbst nach mehreren Geburten oft fitter als der Mann. Unter anderem dank Spermidin.

      Der Mann soll aus anderen Gründen kein Schwächling sein. Ihm hat die Natur die Rolle des Beschützers zugeteilt, da hatte sie keinen lahmen Gaul im Sinn. Sie füttert ihn mit Vasopressin, damit er die Familie verteidigt. Und auch ihn hält das Spermidin jung.

      Als Fitnesstrainer ist das Spermidin kein Schinder. Es traktiert den Körper nicht, damit er sich abrackert. Spermidin arbeitet völlig selbständig. Es erledigt die ganze Arbeit ohne Hilfe, still und effektiv.

      Spermidin hilft von innen heraus. Von ganz innen. Es hält die Zellen sauber und arbeitstüchtig. Es organisiert die innere Müllabfuhr, die alles abtransportiert, was alt, verbraucht, zu viel oder zu schlecht ist.

      In Stockholm war das im Jahr 2016 den Nobelpreis für Medizin wert. Yoshinori Ohsumi, der das Phänomen entdeckt hatte, gab dieser Erscheinung den Namen Autophagozytose oder einfach Autophagie. Es ist die Fähigkeit des Körpers, sich ab und zu selbst aufzuessen. Genau das ist die Übersetzung von Autophagie. Sich selbst fressen. Und Autophagozytose bedeutet, seine eigenen Zellen zu fressen.

      Was passiert nun, wenn der Körper seine kannibalischen Gelüste an sich selbst stillt? Vor allem: Warum hält so etwas fit?

      Der Appetit beschränkt sich auf Dinge, die weg gehören, um Neues entstehen zu lassen. Ähnlich wie in der Industrie werden alte Bestandteile eingeschmolzen und daraus neue Bestandteile gemacht. Aus einem alten Auto wird zum Beispiel das Material für eine neue Kühlerhaube entnommen. In der Biochemie nennt sich das Homogenisieren. Der Vorgang ist höchst regenerativ.

      Die Erneuerung wird von verschiedenen Substanzen aktiviert. Die eifrigste davon ist das Spermidin. Es knabbert das Unnötige weg, putzt den Kehricht zusammen und fegt die Zellen aus, bis aller Schrott draußen ist. Dann macht es aus dem Abfall etwas Neues. Es klingt wie Zauberei und passiert in unserem Inneren.

      Eine zweite Möglichkeit zur Autophagie entsteht durch Kalorienrestriktion. Das Prinzip ist dasselbe. In dem Moment, in dem der Körper nichts zu essen hat, beginnt er, sich vor dem Hungertod zu schützen. Dazu frisst er alle alten Materialien auf, die er nicht mehr braucht, und wandelt sie zu Energie um, die er wiederum dafür verwendet, neue Materialien aufzubauen.

      Spermidin und Fasten haben also dieselbe Aufgabe in Sachen Fitness. Spermidin ist angenehmer.

      In der Forschung wurde diese Eigenschaft des Spermidins längst aufgenommen. Wenn es gelingt, Krebszellen durch Autophagozytose zu entfernen, wäre das die Krönung der Onkologie. Das Forscherteam um Guido Kroemer und Josef Penninger ist gerade dabei.

      Schon vom Namen her wird es keine Überraschung sein, dass Spermidin vor allem in der Samenflüssigkeit vorkommt. Wobei das, wenn auch das größte, nicht das einzige Vorkommen im Körper ist. Es muss ja auch den weiblichen Körper fit halten. Außerhalb des Organismus findet es sich in relativ hoher Konzentration in gereiftem Käse, also zum Beispiel Parmesan, oder in Weizenkeimen.

      Geballt versteckt sich Spermidin in einem Lebensmittel aus fermentierten Sojabohnen namens Natto, das gleich auch viel Vitamin K2 gegen die Verkalkung enthält. Delikatesse ist es keine. Man muss es schon wirklich ernst meinen mit der Zellräumung, sonst bringt man es nur schwer runter.

      Wie das Oxytocin ist Spermidin ein Stoff, der seit Hunderten Millionen von Jahren in der Natur vorkommt und schon in der Pflanzenwelt seine Warmherzigkeit beweist. Bei einem Kälteeinbruch beginnt die Pflanze, Spermidin freizusetzen, um sich damit warmzuhalten. Spermidin ist also auch ein Frostschutzmittel.

      Eine Gruppe Wissenschaftler an der Grazer Universität, die auf dem Gebiet der Alterung und des Zelltods forscht, ist in der Arbeit mit Spermidin weltweit federführend. Frank Madeo und sein Team haben seit dem Jahr 2009 diese den Alterungsprozess verlangsamende Wirkung an unterschiedlichen Tieren getestet. Seit 2016 wird auch schon an Menschen ausprobiert, ob sie Spermidin in hohen Dosen vertragen.

      Den Schluss zu ziehen, dass der Geschlechtsverkehr Krankheiten heilt, ist selbst holistisch gesehen ein bisschen zu optimistisch. Als Therapie kann man ihn vielleicht nicht ans Herz legen, als präventiv und gesundheitsfördernd schon.

      Das Schauspiel, dem wir als Publikum im eigenen Ich beigewohnt haben, hätte noch viele Akte. Über die menschliche Sexualität als bloßen akrobatischen Akt ist allerdings der Vorhang gefallen. Der Holismus hat sich tief vor uns verbeugt, ich applaudiere ihm gern.

      Hoffentlich konnten wir ein bisschen wiedergutmachen, was Peter Sloterdijk von den Gynäkologen sagt:

      »Die rennen mit Organbezeichnungen und Straßenschuhen durchs Fraueninnere wie Touristen von weither durch orientalische Etablissements, geblendet von ihren gebuchten Interessen.«

      Die Sexualität, das begreift man immer mehr, ist ein Netz, das sich durch den gesamten Körper spannt. Sie ist ein evolutionäres Feuerwerk, das an vielen Stellen gleichzeitig gezündet wird und allerorten Funken schlägt.

      Gleichzeitig wird Sexualität seit jeher immer wieder missverstanden und missverständlich an die Jugendlichen weitergegeben. In so gut wie allen Religionen, leider auch im Christentum, gibt es Tendenzen, dogmatisch eine einzige Form von Liebe zu propagieren und alles andere buchstäblich zu verteufeln. Und den Teufel will man ja beim besten Willen nicht im Bett haben. Die Rolle der Frau wurde und wird leider immer noch oft einseitig gesehen. Als unterworfene Gebärerin oder Lustobjekt. Das ist aus medizinischer, menschlicher und holistischer Sicht erschreckend, unmöglich, falsch. Und über Kondom-Verbote kann ich als Mediziner nur staunen.

      Wie wir gesehen haben, braucht die Welt beide, Frau und Mann, um das Leben zu erhalten. Für beide hat die Natur auf teils unterschiedliche, teils gleiche Art gesorgt. Die Evolution hat alle Voraussetzungen geschaffen, dass Frau und Mann glücklich werden. In Peter Sloterdijks neuem Roman Das Schelling-Projekt versuchen vier Wissenschaftler nachzuweisen, dass der weibliche Orgasmus sogar das Ziel der Evolution gewesen ist. Nicht schlecht. Die Lust ist wichtig. Und das Glück ebenso.

      Natürlich hat die Natur ganz offensichtlich auch dafür gesorgt, dass auch homosexuelle Beziehungen funktionieren, obwohl sie nicht der Vermehrung dienen. Die Evolution leistet sich und uns eben einen gewissen Luxus. Auch die heterosexuelle Liebe ist nicht allein auf Reproduktion ausgelegt, das wäre langweilig.

      Allerdings schießt die Opposition gegen patriarchale Dogmen, für die sich der bösartige Begriff »Heteronormativität« eingebürgert hat, oft übers Ziel hinaus. Ich beziehe mich da auf das Buch Sexualpädagogik der Vielfalt von Elisabeth Tuider und Stefan Timmermanns aus dem Jahr 2008. Es entstand als Standardwerk der deutschen Gesellschaft für Sexualpädagogik, die sich als Fachverband zur Qualitätssicherung sexualpädagogischer Arbeit versteht. Das Buch musste schon einige Kritik einstecken, insbesondere seit seiner zweiten Auflage 2012. Es hatte es nämlich in vielen deutschen Bundesländern in den Schulunterricht geschafft, da es Anleitungen zu aufklärerischen Übungen für Schüler beinhaltet.

      Dieses


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