Mehr Mut, Mensch!. Lorenz Wenger
nach dem Tod meines Vaters habe ich begonnen, mir immer wieder diese Frage zu stellen: Wofür würde ich mich jetzt gerade entscheiden, wenn ich noch fünf Wochen auf diesem Planeten zur Verfügung hätte? Welche Dinge möchte ich noch tun, umsetzen, erleben, erfahren, lernen? Welche Menschen möchte ich noch treffen? Was ist mir wirklich, wirklich wichtig?
In diesen dunklen Tagen der Trauer beschäftigten mich viele Fragen rund um meine persönlichen Ziele, Bedürfnisse, Sehnsüchte, Leidenschaften, persönlichen Geheimnisse und Träume. Immer wieder meldete sich einer davon: Die Sehnsucht nach Wasser und nach den unendlichen Weiten des Ozeans suchte mich heim, ja sie vereinnahmte mich sogar. Ein Gefühl, als ob ein Traum täglich anklopft und ich ihn leider nie zur Tür hereinließ, weil mir einfach der Mut dazu fehlte.
Dieser Traum beschäftigte mich seit meinem 14. Lebensjahr, und die Inspiration dazu war ein Film: Le Grand Bleu von Luc Besson (Im Rausch der Tiefe). Weite, Freiheit, Blau, Ozean! Der Film kam 1988 in die Kinos, und seit damals ließ mich diese Sehnsucht nach dem Ozean nicht mehr los – ich trage sie noch heute in mir. Die Story bedient sich der Biographien des Franzosen Jaques Mayol und des Italieners Enzo Maiorca. Die beiden Pioniere des jungen und noch nahezu unbekannten Sports Freitauchen waren Zeit ihres Lebens Kontrahenten. In den 60er- und 70er-Jahren jagten sich die beiden Rivalen einen Rekord nach dem anderen ab. Noch heute werden die Entspannungs- und Atemtechniken Jaques Mayols in der Freitauch-Szene erfolgreich angewendet.
Diese intensiven Bilder in Kombination mit dem Soundtrack dieses Films erzeugten in mir eine immense Sehnsucht nach der Tiefe und dem Tauchen. Aber, was tun? Wo anfangen? Freitauch-Kurse gab es damals noch nicht, dieser Sport war ein paar Geeks unter sich vorbehalten, die ich im zarten Alter von 13 Jahren nicht kannte. Ein Tauchkurs mit Tauchflaschen und Gerätschaften kostete Geld, das ich in diesem Alter auch noch nicht locker hatte. Es blieb also vorerst beim sommerlichen Luftanhalten in der Badeanstalt mit Aussicht auf Keramik-Fliesen und Füße statt auf Korallen und die Vielfalt exotischer Fische. Es sollte allerdings noch zehn Jahre dauern, bis ich mit dem Tauch-Virus so richtig infiziert wurde.
Aber mit 23 Jahren war es endlich soweit! Ich nahm meinen gesamten Mut zusammen und brach in die Fremde auf. Auf einer halbjährigen Reise, zuerst mit dem Frachtschiff nach New York, dann mit einem umgebauten Schulbus quer durch die USA und als Backpacker durch Mittelamerika, bot sich endlich die Gelegenheit, meinen Traum und meine Sehnsucht nach meinem persönlichen »Rausch der Tiefe« einzulösen: Ich buchte einen Tauchkurs auf der honduranischen Piraten-Insel Utila. Nach dem ersten Atemzug unter Wasser wusste ich: Hier fühle ich mich wohl, das ist mein Element, hier gehöre ich hin. So kam es, dass ich mich einige Wochen auf dieser Insel installierte und mich bis zum Rettungstaucher ausbilden ließ. Täglich war ich mehrmals im Wasser (bis hin zur tropischen Ohrenentzündung). Dies war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, die wohl lebenslang anhalten wird. Das Tauchvirus hatte mich voll und ganz befallen und wohnte unterschwellig in mir, auch als meine halbjährige Reise durch fremde Welten zu Ende war.
Nach meiner Rückkehr von dieser Reise arbeitete ich als Berater in einer namhaften Werbeagentur. Die Sehnsucht nach der unendlichen Weite des blauen Ozeans und das Gefühl der Schwerelosigkeit unter Wasser holten mich wieder ein. Viele Überstunden bei mittelmäßigem Lohn in Kombination mit den Sinnfragen, nicht zuletzt durch den Vater-Verlust, führten schließlich zu einer wegweisenden Entscheidung: Ich kündigte meinen Beraterjob und buchte einen Einweg-Flug nach Ägypten, um mich dort als Tauchlehrer ausbilden zu lassen. Zwei Jahre später – während eines »Winterurlaubs« in der Schweiz – kam es, wie es kommen musste. Ich verliebte mich in die Mutter meiner zukünftigen Kinder, und mir wurde klar, dass ich nach der kommenden Ägypten-Saison wieder zurück in die Schweiz übersiedeln würde, um eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Frisch verliebt und zurück in der Schweiz nahm ich also wieder ein »normales«, gut-bürgerliches Leben auf und arbeitete in einem Großunternehmen. Wir heirateten und gründeten eine Familie. Nebst vieler neuer Aufgaben als junger Familienvater ging ich auch meiner Arbeit mit viel Verantwortung und Elan nach. So lange, bis der Elan nachließ und plötzlich ganz versiegte. Ich war, ohne es zu merken, mehr und mehr in ein berufliches Boreout geschlittert, weil diese Art zu arbeiten einfach langfristig nicht die meine war. Es hieß also wieder einmal, eine drastische Entscheidung zu treffen und neue Wege zu gehen. Ein weiterer Pakt stand an. Dieses Mal gemeinsam mit der Familie. War es einfach? Nein, absolut nicht. Hatte ich Angst? Ja, klar, ich hatte bei allen diesen Entscheidungen Angst. An dieser Stelle, liebe Leserin, lieber Leser, muss ich Ihnen ein Geständnis machen: Ich bin nämlich ein gebürtiger Angsthase!
Deswegen war ich auch immer extrem überrascht, von meinem Umfeld zu hören, wie mutig ich denn sei. Mutig, weil ich jeweils meinen vermeintlich gut bezahlten und situierten Job gekündigt hatte, ohne jeweils einen neuen in Aussicht zu haben. Weil ich völlig alleine, begleitet nur von 30 kg Tauchgepäck, nach Ägypten reiste. Weil ich sieben Jahre später – als projektleitender Kommunikationsverantwortlicher und Verwalter von Millionenbudgets in einem Großunternehmen – nach meinem beruflichen »Boreout-Syndrom« mit meiner jungen Familie auf unbestimmte Zeit auf die Philippinen ausgewandert bin. In ein Land, in dem wir alle noch nie zuvor waren, um dort ein Tauchresort zu übernehmen und wirtschaftlich aufzubauen. Weil ich mich schlussendlich vor fünf Jahren erneut selbstständig gemacht habe, in einer völlig neuen, mir bis dahin weitgehend unbekannten Branche und ohne Netzwerk. Trotz Familie, zwei schulpflichtigen Kindern und einer nicht zu knappen Hypothek.
Was sich im ersten Moment wie ein Abenteuer-Roman anhören mag, war es teilweise auch. Doch waren meine Ängste immer mit im Spiel. Angsthase, Sie erinnern sich? Hohe Ungewissheit, tiefgehende Risikogedanken und vor allem auch nagende Selbstzweifel und eindeutige Ängste bezüglich einer möglichen Selbstüberschätzung begleiteten alle meine Entscheidungen. Auch existenzielle Ängste waren etappenweise meine treuesten Begleiter. Und doch, in diesen Jahren der ständigen Veränderung und des Eintauchens in neue berufliche wie private Welten, wandelte ich mich – ohne es im Prozess selbst so richtig zu merken – vom Angsthasen zum MUTIGEN Angsthasen! Ja, ich habe auch heute noch Ängste, sogar jede Menge davon. Das ist auch ganz normal. Aber heute ist die Angst mein Verbündeter und bringt mich immer wieder mutvoll in die Zukunft.
Mit diesem Buch will ich Sie liebe Leserin, lieber Leser, einerseits teilhaben lassen an meiner vielleicht etwas außergewöhnlichen Geschichte mit vielen Sackgassen, Kurven und Umwegen durch Höhen und Tiefen. Andererseits möchte ich Sie mit vielen persönlich erlebten Anekdoten und Geschichten dazu inspirieren, Ihre eigenen mutvollen »Tauchgänge« durchs Leben zu gestalten, wie Sie es für richtig, wünschens- und erstrebenswert halten. Sie werden in diesem Buch zudem Fragen und Formate finden, welche ich über die letzten Jahre zuerst persönlich im Selbstversuch erprobt und anschließend auch erfolgreich mit meinen Klienten und Kunden angewendet habe. Dieses Buch soll Sie dazu einladen, Ihre eigenen Wege mutig zu gehen und Ihre lang ersehnten Vorhaben, Träume, Wünsche, Sehnsüchte, Pläne, Visionen endlich in die Tat umzusetzen, vertrauensvoll den ersten Schritt dafür zu tun und loszulegen. Wagen Sie das, was Ihnen wirklich wichtig ist! Wenn nicht jetzt, dann spätestens am Ende dieses Buches. Deal? Vielen Dank, dass Sie sich dazu Ihre wertvolle Zeit nehmen!
Ihr mutiger Angsthase Lorenz Wenger
1 Ängste – alltäglich und doch tabu
Unsere Welt scheint sich immer schneller zu drehen. Wir versaufen in Informationen und Möglichkeiten und dürsten gleichzeitig immer mehr nach Glück und Erfüllung in unserem Leben. Noch nie war das Tempo der Entwicklung so rasant wie heute. »Die einzige Konstante ist die Veränderung« – sicherlich haben auch Sie diese Aussage bereits mehrmals gehört. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Mittlerweile verändert sich auch die Geschwindigkeit dieser Veränderung, und zwar exponentiell. Wir leben somit in einer Zeit totaler Veränderung, permanenten Fortschritts – und das Tempo nimmt laufend weiter zu. Wir haben natürlich stets die Wahl und Freiheit, ob uns das gefällt oder nicht, ob wir neue Entwicklungen, Technologien, Möglichkeiten, Chancen, Gelegenheiten annehmen oder diese als Bedrohung wahrnehmen und verweigern. Es liegt einzig und alleine an uns selbst. Aber genau diese Freiheit kann auch zu ausgeprägten