Nenn mich Norbert - Ein Norbert-Roman. Andrea Reichart

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warum das Heim nun einen Bewohner mehr hatte. Er stammelte über Claudias Tod und über seine Allergie und hatte das Gefühl, es würde trotz aller Tragik einfach nur wie eine faule Ausrede klingen, eine von hunderten, die man hier wahrscheinlich schon gehört hatte. Dennoch nickte die Frau und versprach ihm, noch vierzehn Tage zu warten, ehe man den Hund offiziell in die Vermittlung gab. Vielleicht geschah ja doch noch das erhoffte Wunder?

      Als Kai schließlich ins Auto stieg, fühlte er sich wie ein Schwein, und er war fast erleichtert, als Silke ihn auf der Fahrt zurück nach Hause mit ihrem eisigen Schweigen auch genauso behandelte.

      ‚Himmel nochmal!‘, dachte er nach ein paar Kilometern, als er merkte, wie ihm die Luft ausging. Das Auto musste gereinigt werden, komplett. Das Haus sowieso. Seit fast einer Woche war er nun krankgeschrieben, akuter Allergieschub. Seine Haut sah aus, als habe er Neurodermitis, Atmen war zur Qual geworden, und wenn Silke nicht endlich nachgegeben hätte, wäre er noch heute ins Hotel gezogen.

      Claudia war tot. Aller Wahrscheinlichkeit nach. Und das nun schon seit fast vier Wochen. Niemand hatte auch nur eine Spur von ihr gefunden, auch er nicht, als er mit Markus, dem anderen Trauzeugen von Hubert und Claudia, einen Tag nach der Katastrophe für eine Woche da runter geflogen war, in die Hölle.

      Markus war nicht nur sein Freund, sondern auch sein Arzt, und sie hatten sich eingebildet, sie könnten in Thailand vielleicht eine verletzte Claudia in einem der Hospitäler finden und nach Deutschland zurückbringen. Was er gesehen hatte, würde ihn für den Rest seines Lebens nicht mehr loslassen. Es war nicht leicht gewesen, ins Land zu kommen, zu viele wollten gleichzeitig rein. Tausende waren auf der Suche nach Angehörigen. Markus war als Arzt willkommen, und während er, Kai, durch die Trümmer ging und sich immer wieder übergeben musste durch den Verwesungsgeruch, da hatte er sich mehr als einmal verflucht. Selbst, wenn er an einer der zahllosen Fotowände direkt vor Claudias Foto gestanden hätte, hätte er sie nie und nimmer erkannt. Die Schwerverletzten sahen für ihn auf den Bildern alle gleich entsetzlich aus. Und erst recht die Leichen. Aufgequollen, schwarzfleckig, nach Stunden bereits im Verwesungsprozess, bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

      Heerscharen von Ärzteteams aus allen Ländern arbeiteten verbissen gegen die Zeit, und versuchten DNA zu sichern und zu erfassen. Sie versuchten Ordnung ins Chaos zu bringen, versicherungsrelevante Klarheit, versuchten den Fleischbergen ihre Namen zu entlocken, weiße Flecken auf Touristenlisten zu füllen, Bestattungserlaubnisse auszustellen, Wege freizumachen für die Überlebenden.

      Sie hatten Claudias Haarbürste in Thailand gelassen und die Sicherheit mit nach Hause genommen, dass es Monate dauern würde, ehe sie oder ihre Reste dem nummerierten Tütchen zugeordnet werden könnten. Wenn überhaupt. So viele waren mitgerissen worden ins Meer, so viele unauffindbar fort.

      Selbst als sie ins Flugzeug gestiegen waren, konnten weder er noch Markus begreifen, was sie gesehen hatten und hinter sich ließen. Kais allergische Reaktion auf Claudias Hund hatte sich in den acht Tagen, die sie unterwegs gewesen waren, beruhigt. Unglaublich, unfassbar. Da warfen die kleinen Follikel im Fell eines sauberen, gesunden Tieres in einem sauberen Haus seinen Körper in ein Chaos, das lebensbedrohliche Ausmaße annahm, und dort in Thailand hatte das lebensbedrohlichste Umfeld, das er sich überhaupt vorstellen konnte, dem Körper das Signal gegeben, sich zu entspannen und zu erholen. Kai hasste sich fast dafür, dass bei ihm alles verkehrt herum gepolt war. Und er schämte sich.

      Das änderte nichts daran, dass der ganze Zirkus wieder von vorne losging, nachdem er zwei Tage zuhause war. Markus hatte schließlich mit der Hand auf den Tisch geschlagen und ihn und Silke böse angefunkelt. Wenn sie nicht endlich Vernunft annähmen, und den Hund abgäben, würden sie nicht nur Kai das Leben zur Hölle machen, sondern auch dem Hund. Da draußen war wahrscheinlich jemand, der hervorragend zu diesem Tier passte und sich nichts sehnlicher wünschte, als einen besten Freund fürs Leben zu finden. Was, wenn dieser jemand gerade jetzt durch die Tierheime streifte, auf der Suche nach einem Hund wie Nobbi? Den Silke aus lauter Egoismus nicht abgeben wollte?

      „Egoismus?!“ Silkes Stimme war vor Wut umgeschlagen.

      „Wenn wir den Hund abgeben und sie wird gefunden, was dann?! Niemand weiß, ob sie tot ist! Sie kann genauso gut noch leben!“

      Markus bemühte sich um Sachlichkeit, warf Zahlen ins Spiel, Wahrscheinlichkeiten, Gesundheitsrisiken für Kai.

      Am Ende war er es leid.

      „Du musst dich entscheiden, Silke. Für die Lebenden oder für die Toten. Für deinen Mann oder diesen Hund.“ Dann hatte er sich seinen Mantel gegriffen, Kai auf die Schulter geklopft und war ohne ein weiteres Wort gegangen.

      Silke hatte nachgegeben. Hatte sich für ihn entschieden. Gegen den Hund.

      Als er in die Einfahrt ihres Hauses fuhr, war er nur nicht sicher, ob ihre Ehe das überleben würde.

      Kapitel 7

      So viele Gerüche. So viele Geräusche. So viel Angst. Er versteht nichts.

      Die Frau, die ihn abgeleint hat, ist verschwunden. Eine andere kommt und stellt wieder Futter hin. Es schmeckt falsch. Er ist verunsichert, er versteht nichts, niemand versteht ihn. Er zieht sich in eine Ecke zurück, macht sich klein. Angst. Er muss warten, aber er weiß nicht mehr worauf. Alles ist fremd, er muss aufpassen, hier gelten andere Regeln.

      Es gibt eine Wiese, aber da sind andere. Andere machen ihm Angst, vor allem der Große dort, der Chef. Er weiß nicht genau, wo er hin darf, immer sind die anderen schon vor ihm da gewesen oder kommen ihm zu nah. Manchmal viel zu nah, dann geht er nicht auf die Wiese.

      Er macht sich klein, schläft lieber. Schläft.

      Dann wieder die Wiese, er macht ein paar Schritte. Der Große kommt, jemand schreit, zu spät, er muss sich wehren, wehrt sich. Schmerz! Wut! Schmerz! Wut! Wut! Wut! Sie schreien, er zittert, der Große schreit. Eine Frau will ihn packen. Wut! Wut! Sie schreit! Schmerz! Wut! Er macht sich klein, weicht zurück, zurück, in die Ecke, knurrt, fletscht die Zähne. Schmerz. Er leckt sich, leckt das Blut weg. Seins und das des Großen. Alle sind weg. Er ist alleine. Nichts ist gut.

      Kapitel 8

      „Bitte wenden Sie jetzt!“

      Offensichtlich konnte selbst die aktuellste Navigationssoftware nichts gegen das Sauerland ausrichten.

      Er hatte mit Bettina in Gedanken einen Deal geschlossen.

      „Wenn ich den nächsten Autor unter Vertrag nehme, suche ich noch einmal dieses verdammte Tierheim. Aber das ist dann das letzte Mal. Danach kaufe ich, meinetwegen in der nächsten Pommesbude, einen Wellensittich. Denen kann man wenigstens das Sprechen beibringen.“

      Norbert überlegte, während er eine geeignete Stelle zum Wenden suchte. Wäre vielleicht sogar ganz nett, wenn irgendetwas antworten würde. Nicht, dass er sich dann weniger pathologisch vorkäme, aber er würde auf andere Menschen nicht mehr einen ganz so durchgeknallten Eindruck machen, wenn er mit sich selbst redete. Dann könnte er wenigsten auf einen Vogelkäfig zeigen und das Ganze ‚Unterricht‘ nennen. Es musste ja nicht gleich jeder wissen, dass er Zwiegespräche mit seiner toten Frau führte.

      Norbert besaß nun seit genau drei Jahren dieses Haus im Sauerland. Sie waren damals hierher gezogen, weil Bettina sich so in das Dorf verliebt hatte. Dann hatte sich der Krebs zurückgemeldet und sie am Ende mitgenommen.

      Eigentlich gab es keinen Grund, das Haus zu behalten. Und hierher zu fahren, hatte für ihn seit ihrem Tod immer einen faden Beigeschmack. Er hatte überlegt, es zu vermieten, aber alleine der Gedanke, alles auszuräumen, an dem Bettinas Herz gehangen hatte, erschien ihm unerträglich. Er fand auch niemanden in seinem oberflächlichen Bekanntenkreis, der hier mal ein Wochenende verbringen wollte. Kein Wunder, bei der Infrastruktur. Eine einzige, dicht befahrene Bundesstraße durchschnitt das atemberaubend schöne Hönnetal, und hirnrissiges Kurvenschneiden schien hier ein ganz besonderer Volkssport zu sein. Wenn dann zwei Verrückte bei ihrem Hobby aufeinander trafen, staute sich der Verkehr für Stunden. Ein Wunder, dass hier nur so wenige Kreuze am Fahrbahnrand standen.

      Bettina hatte trotzdem endlos schwärmen


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