TEXT + KRITIK 232 - Wolfgang Welt. Sascha Seiler
TEXT+KRITIK.
Zeitschrift für Literatur
Begründet von Heinz Ludwig Arnold
Redaktion:
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Leitung der Redaktion: Claudia Stockinger und Steffen Martus
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Print ISBN 978-3-96707-544-1
E-ISBN 978-3-96707-546-5
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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2021
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Inhalt
Wolfgang Welt
Jukebox Baby
Sascha Seiler
»Die grüne Welle reiten«. Gespräch mit Phillip Goodhand-Tait
Rolf Parr Im Stakkato pop-kultureller Bewegungszyklen. Wolfgang Welts autofiktionales Schreibprojekt
Sascha Seiler Der raue Ton der Achtzigerjahre. Wolfgang Welt als Musikjournalist
Thomas Ernst Pop und Komik, Wahn und ›Männlichkeit‹. Wolfgang Welt als Autor der Subversion?
André Menke »Er wollte wissen, in welcher Tradition ich mich sähe, und ich antwortete, in keiner«. Über einige Einbettungen und literarische Nachbarschaften von Wolfgang Welts Werk
Innokentij Kreknin »Ob das alles autobiographisch sei? Ja sicher.« Autofiktion bei Wolfgang Welt
Jan Süselbeck Einfach kompliziert. Über Wolfgang Welts Verhältnis zur Literaturkritik
Martin Willems »Ich besitze immerhin ca. 2000 Bücher …«. Wolfgang Welts Nachlass
Martin Willems Auswahlbibliografie Wolfgang Welt
Notizen
Wolfgang Welt
Ich war auf nichts Besonderes aus, auch nicht auf irgendeine Frau. Es schien, dass ich mich wieder volllaufen lassen würde, wie an den vergangenen vier Wochenenden seit meinem Autounfall. Ich überlegte nicht lange, ob ich meine weißen Roots oder meine blauen Wildlederschuhe anziehen sollte. Was ich trug, spielte beim Saufen keine Rolle. Beim Dellmann klopfte ich zuerst auf den Stammtisch, um so die Klammerrunde zu grüßen. Alles alte Kartenhaie, die ich kannte, solange ich hier in unserem Vereinslokal verkehrte. Ich ging an den Tresen zu Erwin Patzke, dem bärtigen Haudegen, der mit seinen bald vierzig Jahren immer noch glaubte, als Libero in die Erste zu gehören, den man aber nur noch in den Alten Herren prockeln und die Mädchenmannschaft trainieren ließ. Das hatte er gerade gemacht. Seine Haare, die er nie föhnte, waren noch nass, wie an dem vergangenen Freitag, als ich hier meine Sauftour anfing. Da hatten Erwin und ich von gemeinsamen alten Zeiten geschwärmt, vor allem von dem Spiel in Eppendorf, das noch gar nicht so lange her war, als wir bei denen 3:0 in der Halbzeit führten und die dringend die Punkte gegen den Abstieg brauchten. Irgendeiner gab dann die Parole aus: »Jungs, verliert, die tun ein paar hundert Mark raus.« Und Erwin schaukelte das Ding mit unserem Torwart. Eppendorf gewann tatsächlich 4:3. Nur bekamen wir nicht die Blauen in die Hand gedrückt, die taten bloß einen Kasten Bier und ’ne Flasche Jägermeister raus, die dann Erwin und ich alleine leer machten, weil die andern den Likör nicht wollten. Bei Erwin stand einer, von dem ich nur wusste, dass er Ötte hieß. Ich hatte ihn schon öfter hier in der Kneipe gesehen, aber die meiste Zeit hatte er für sich gestanden. Jetzt unterhielt er sich mit Erwin. Ich stellte mich zu den beiden, ohne dass ich aufdringlich wirken wollte. Ich bekam mit, dass Erwin und Ötte mal zusammen gearbeitet hatten, nicht auf dem Pütt und auch nicht auf dem Bau, wo Erwin jetzt Estrich legte, sondern bei irgendeiner Klitsche in Werne. Ich hörte nur zu und trank sehr schnell mein Bier. Neben uns an der Theke lungerte ein Besoffener rum, den ich noch nie gesehen hatte. Am andern Ende des Tresens knobelte die Wirtin mit zwei Stammgästen. Immer wenn ihr ein Schock gelungen war, schräpte sie. Zum Glück schien sie eine Pechsträhne zu haben und blieb meist stumm. Erwin fing an, von dem Attentat in Lütgendortmund zu erzählen, bei dem sich im Amtshaus der Bombenleger selbst in die Luft gesprengt hatte. Erwin, ganz Fachmann, meinte, er hätte Diesel genommen, der brennt nicht so schnell. Und ich meinte, der hätte wohl erst das Benzin verteilt und sich dann eine angesteckt. Der Besoffene hatte das mitgekriegt und sagte »Ihr seid doch alle Terroristen.« »Halt die Klappe«, sagten wir oder so was. Wir ließen uns nicht von ihm stören. Erwin kam auf einen neuen Energiedeal mit den Russen zu sprechen und schwärmte von den riesigen Rohstoffvorhaben, die die hätten. Auch das hatte der Besoffene, der so an die fuffzig war, mitgekriegt. »Ihr seid doch Kommunisten.« Er ging um den Tresen rum und verlangte vom Dellmann das Telefon. Bereitwillig gab ihm der Wirt den Hörer. Dann wollte der Besoffene die Nummer der Polizei wissen. Die anzurufen, konnte ihm der Wirt ausreden. Ich dachte, eigentlich müsste der den rausschmeißen, da der doch Stammgäste belästigte. Doch der Dellmann tat nichts dergleichen, er war eben kein Gerd Neemann. Stattdessen servierte er ihm noch Pommes frites mit Mayonnaise. Ich ging schiffen. Kaum hatte ich den Dödel in der Hand, ging hinter mir die Tür auf. Eh ich mich versah, hatte mir der Besoffene über meine Schulter drei Stück ins Gesicht geknallt und dabei geschrien »Du machst mir Deutschland nicht kaputt.« Ich tickte mit dem Kopf gegen die Fliesen. Erst da wusste ich, was eigentlich los war. Ich drehte mich um und nahm den Schläger in den Schwitzkasten. Ich rief nach Hilfe, aber keiner kam. Er wehrte sich heftig. Wir landeten in der Pissrinne, doch ich ließ ihn nicht los. Langsam zog ich ihn vom Scheißhaus runter, rein in die Kneipe. Erst da ließ ich ihn laufen. Ich forderte den Wirt auf, die Polizei zu rufen, das machte der aber nicht, obwohl ich ihm die Male in meinem Gesicht zeigen konnte. Stattdessen ließ er den Besoffenen zahlen und gehen. Als der weg war, drang ich noch mal auf den Dellmann ein, er sollte die Polizei anrufen. Als der sich wieder nicht rührte, verlangte ich das Telefon, das konnte er mir nicht verwehren. So rief ich die Bullen an. Nicht dass ich ein besonderer Polizistenfreund war, aber schon der Krankenkasse wegen musste der Täter dingfest gemacht werden. Unter Garantie würden die mich von der Barmer Ersatzkasse anrufen, wenn sie die Diagnose kannten und mich nach dem Vorgang befragen. Keine fünf Minuten später kamen zwei Mann in Uniform an. Ich stellte mich vor und schilderte die Tat. Als ich fertig war, kamen noch zwei Zivile rein. Ich dachte mir, die sind vom BKA, wegen des Attentats. Ein Uniformierter sagte denen, es sei nichts Besonderes und ich dachte, hat nichts mit dem Attentat zu tun. Da hauten die Zivilen wieder ab. Ich wurde gefragt, ob ich den Täter kenne. Ich sagte nein und dann in vollem Ernst: »Hier an der Gabel sind seine Fingerabdrücke.« Aber der Polizist winkte ab. Dann fragte er die andern Gäste, ob die den Schläger kannten. Keiner antwortete. Ich hatte zumindest den David Hoffmann in Verdacht, dass der wusste, wer das war. Der kannte doch jeden auf der Wilhelmshöhe. Aber er ließ sich nicht mit