Der Scrum-Reiseführer. Tobias Renk
jeder Phase finden bestimmt Teambildungsentwicklungen statt. Die Phasen sind je nach Team unterschiedlich lang. Allgemeingültige Aussagen über die Entwicklungsdauer können also nicht getroffen werden und wären allenfalls unzuverlässig. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Gruppe neu zusammengewürfelt wird oder ob eine bereits bestehende Gruppe mit nur einer weiteren Person ergänzt oder ausgetauscht wird. Der Phasenzyklus beginnt immer von vorne, allerdings nicht jedes Mal im gleichen Ausmaß. Bereits die Kenntnis dieser Phasen innerhalb eines Teams hilft, mit Schwierigkeiten konstruktiver umzugehen. Konflikte, Streitigkeiten und kontroverse Diskussion werden dann nicht mehr als ein Zerfall des Teams angesehen, sondern als etwas Normales und Notwendiges, als ein Teil der gemeinsamen Reise.
Team-Building-Phasen nach Tuckman
Forming
Viele Teammitglieder sind in dieser Phase voller Vorfreude auf die neue Aufgabe. Gleichzeitig ist diese positive Aufregung gepaart mit Unsicherheit, da man sich und seinen Platz im Team noch nicht einschätzen kann. Es gibt viele unbeantwortete Fragen in Bezug auf das Miteinander und den Umgang untereinander. Verantwortlichkeiten und Prozesse sind noch nicht bekannt. Manchmal weiß das Team zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal, dass es bestimmte Prozesse überhaupt benötigt. Das Gebot der Stunde heißt Beobachten und Verstehen. Konflikte werden (noch) nicht offen angesprochen, da eine Unsicherheit darüber besteht, wie das Team mit Bedenken und Konfliktsituationen umgeht. Oft benötigt es ein paar couragierte Vorstöße einzelner, bevor auch andere Teammitglieder sich trauen, offen Kritik zu äußern.
Storming
Nach einiger Zeit wird den Teammitgliedern bewusst, dass nicht alle Erwartungen an das Team zu erfüllen sind; zumindest nicht, wenn sich nichts ändert. Einige Teammitglieder werden jetzt die Gunst der Stunde ergreifen und ihre Unzufriedenheit offen ansprechen. Andere werden sich eher in sich zurückziehen und Abstand vom Team nehmen. Gründe für Unzufriedenheit gibt es viele und sind von Team zu Team verschieden. Einige Teammitglieder können genervt darauf reagieren, dass ihre Arbeitsergebnisse und deren Fortschritt als Teil des Sprint Backlogs transparent gemacht werden. Sie erkennen darin nichts anderes als ein Kontrollinstrument des „Managements“. Einige werden mit dem Gesamtfortschritt unzufrieden sein und nicht selten nach Gründen außerhalb ihres Einflussbereichs suchen, um sich selbst vor anderen – aber auch vor sich selbst – abzusichern und rechtfertigen zu können. In solchen Situationen meinen Teammitglieder zu lernen, dass sie sich nicht auf andere im Team verlassen können. Vorwürfe werden laut und die Verantwortung wird von sich selbst weggestoßen. Themen werden vermehrt „in kleiner Runde“ diskutiert, womit unweigerlich Allianzen innerhalb des Teams gebildet werden. Dem entgegen wirkt, den Fokus der einzelnen Teammitglieder weg von den individuellen Leistungen hinzu einer intensiven Zusammenarbeit zu lenken. Erkennt jeder im Team an, dass die Kollegen besondere Vorzüge und individuelle Schwächen mitbringen, von denen das Team in seiner Gesamtheit profitiert, hilft dies allen, die Situation besser zu verstehen und damit konstruktiv umzugehen.
Norming
Durch viele Diskussionen und Konflikte lernen sich die Teammitglieder besser kennen. Sie erkennen und verstehen die Wertegerüste der anderen Teammitglieder und lernen, wie das Team über die formellen Rollen hinaus funktioniert. Die Teammitglieder bilden nur Taktiken aus, um die Zusammenarbeit zu stärken, Gemeinsamkeiten zu fördern und Stärke der einzelnen Teammitglieder besser zu integrieren. Ein überraschendes Ergebnis, das durchaus nachdenklich stimmen kann, wurde von Google im Rahmen des Projektes Aristotle veröffentlicht. Demnach kommt es bei einem Hochleistungsteam nicht darauf an, ob es sich an allgemein anerkannten guten Werten und Prinzipien orientiert, wie beispielsweise Teammitglieder ausreden lassen und ihnen nicht ins Wort fallen, sondern dass alle im Team die gleichen Werte und Prinzipien teilen! Von außen betrachtet ist es also für jemanden sehr schwer, auf Grund des Umgangs miteinander im Team direkt auf die Leistungsfähigkeit des Teams zu schließen. Ein Team, in dem sich die Mitglieder gegenseitig anschreien, kann durchaus Höchstleistungen erbringen, solange alle im Team diesen Umgang als den für das Team richtigen erachten.
Performing
Nach ausgetragenen Konflikten, die viel Kraft und Energie gekostet haben, steigt die Stimmung im Team. Die Teammitglieder beginnen, sich weniger mit sich selbst und den anderen zu beschäftigen, sondern konzentrieren sich mehr auf Inhalte. Das grundsätzliche Gerüst der Zusammenarbeit steht, der Fokus liegt jetzt darauf, wie gemeinsame Ziele nach und nach immer besser und schneller erreicht werden können. Das Team hat dazu Rituale etabliert, die ebenfalls dabei helfen, neu auftretende Konflikte lösungsorientiert anzugehen. Es entsteht ein „inner circle“, der es für Außenstehende schwer macht, Teil des Teams zu werden.
Adjourning
Wird das Teamgefüge nun substanziell verändert, zum Beispiel dadurch, dass das Team in kleinere Teams aufgeteilt wird oder dass neue Teammitglieder auf Schlüsselrollen hinzukommen, entstehen bei vielen Teammitgliedern Sorgen und Bedenken. Vor allem mögliche – und bis dato unbekannte – Veränderungen der eigenen Rolle sorgen für Unsicherheiten einzelner Teammitglieder.
Teambildung benötigt Zeit. Obwohl das von Tuckman definierte Phasenmodell bis heute nichts von seiner Gültigkeit verloren hat, ist der Druck auf Teams, in immer kürzeren Zyklen mehr Ergebnisse zu liefern, gestiegen. Haben Unternehmen heute also noch Zeit für Teambildung? Kann das Thema Teambildung beschleunigt werden? Ein Begriff, der in diesem Zusammenhang immer häufiger gebraucht wird, ist der des Empowerments. Führungskräfte geben dabei einen Teil ihrer Entscheidungshoheit auf und übertragen diesen auf ihre Mitarbeitenden. Dadurch, dass Teams bestimmte Entscheidungen innerhalb der Gruppe treffen dürfen, wird die Motivation gesteigert, was sich positiv auf die Lieferung von Ergebnissen auswirkt und gleichzeitig die Dauer des Teambildungsprozesses verkürzen kann. Dieser zuerst einfach anmutende Weg birgt jedoch Konfliktpotenzial. Mal abgesehen davon, dass viele Führungskräfte diesem Prinzip misstrauen, weil sie dadurch selbst weniger „mächtig“ sind und befürchten, Kontrolle zu verlieren, müssen Mitarbeitende erst lernen und wollen, Entscheidungen zu treffen. Um dies zu erreichen, sind zunächst noch weitere Schritte notwendig.
General Stanley McChrystal beschreibt in seinem Buch Team of Teams ein einfaches Konzept, das den Zusammenhang zwischen Komplexität und Anpassungsfähigkeit verdeutlicht. Diese zwei Aspekte sind es, die agile Entwicklungsmethoden wie Scrum so beliebt gemacht haben. Obwohl dem Buch ein militärischer Hintergrund zugrunde liegt, sind die Erkenntnisse durchaus auf Scrum Teams anwendbar. Komplexität wird in diesem Modell maßgeblich durch die Komponenten Geschwindigkeit, also die sich rasend schnell ändernden Umweltbedingungen, und gegenseitigen Abhängigkeiten derselben bestimmt. Um auf diese komplexen Probleme reagieren zu können, braucht es ein anpassungsfähiges Team. Dieses wird wiederum durch ein gemeinsames Bewusstsein innerhalb des Teams sowie durch Empowerment der Teammitglieder erreicht. Entscheidend ist dabei, dass eine gewisse Reihenfolge berücksichtigt wird. Zunächst sollte ein gemeinsames Bewusstsein geschaffen werden. Erst mit dieser einheitlichen Basis kann innerhalb eines Teams Empowerment stattfinden. McChrystal geht in seinem Buch sogar noch weiter, wenn er schreibt, dass Empowerment ohne ein gemeinsames Bewusstsein gefährlich sei. Er führt als Beispiel die Finanzkrise 2008 an, die zu einem großen Teil von jungen, unerfahrenen Bankern ins Rollen gebracht worden war, die zu viel Entscheidungsspielraum und zu wenig Anleitung bekommen hatten. Empowerment funktioniert demnach nicht, wenn innerhalb einer Organisation oder eines Teams die Verantwortung einfach „nach unten“ geschoben wird. Es ist sogar in hohem Maße gefährlich. Vielmehr müssen die Teammitglieder bereit und willens sein, Verantwortung zu übernehmen. L. David Marquet beschreibt diesbezüglich eine Episode in seinem Buch Turn the Ship Around!, in der sich Abteilungsleiter beim Executive Officer abmelden und fragen, ob es für sie noch etwas zu tun gäbe. Die Verantwortung für die Arbeiten der Abteilungsleiter bleibt damit laut Maquet beim Executive Officer. Vielmehr sollten Abteilungsleiter erklären, was sie bereits geschafft haben und was sie planen, als nächstes zu tun. Marquet bezeichnet das als „Leadership at all levels“ oder Intent-based Leadership, womit wir erneut beim Thema Selbstorganisation wären. Die beiden wichtigsten Zutaten, die den Kern des Konzepts von McChrystal bilden, fehlen jedoch noch. Diese sind ein gemeinsames, sinnhaftes Ziel und Vertrauen.