Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum - Jan Heilmann


Скачать книгу
der Artikel zu ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω (32mal im NT belegt; 65mal in der LXXAT/HB/LXX)/ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις (dreimal im NT/viermal in der LXX) nicht einmal eine Seite lang ist (und den Befund unzulässig verkürzt darstellt),5 dagegen aber z.B. der Artikel zum Verb κηρύσσω (61mal im NT belegt; 32mal in der LXX) 19 Seiten umfasst.6 Hinzu kommt, dass sich weder im Reallexikon für Antike und ChristentumChristentum (RAC), noch im Handwörterbuch RGG4, noch in der TRE ein Artikel zum Stichwort „lesen“ o. ä. findet.7 Dies lässt mutmaßen, dass Lesen eine Selbstverständlichkeit ist, die wegen der eigenen LeseerfahrungLese-erfahrung für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unmittelbar evident zu sein scheint; ein notwendiger, aber sonst wenig interessanter Prozess, um die Botschaft des Textes zu Gehör zu bringen. Doch die Frage nach dem Lesen im frühen Christentum ist eben nicht nur eine technische Frage. Ein genaueres Wissen über das Lesen im frühen Christentum hat Implikationen für wichtige Forschungsfelder der neutestamentlichen Wissenschaft, wie etwa:

       die Kommunikationsbeziehungen zwischen Paulus und seinen GemeindenGemeinde und zwischen den Gemeinden untereinander;

       die frühchristliche Ritualgeschichte (also die Frage nach der Entstehung und Vorgeschichte des christlichen Gottesdienstes und von Liturgien);

       die rezeptive Arbeitsweise der AutorenAutor/Verfasser der neutestamentlichen Texte und damit z.B. auch für das Synoptische Problem;

       in methodischer Hinsicht für die Diskussion um formgeschichtlicheFormgeschichte Einordnungen der neutestamentlichen Texte sowie v. a. für die Diskussion um die Anwendbarkeit moderner literaturwissenschaftlicher Methoden und Theorien auf die neutestamentlichen Texte usw.;

       Modelle zur Konzeptualisierung der Entstehung des neutestamentlichen KanonsKanon.

      Die Frage nach dem Lesen im frühen ChristentumChristentum ist zuletzt aber gerade auch von hermeneutischer und theologischerTheologie Bedeutung, da Heilige SchriftenHeilige Schrift(en) bzw. als offenbarte und schriftgewordene Worte GottesGott interpretierte Texte schlicht und einfach zuallererst gelesen werden müssen.8

      Das Ziel dieser Studie liegt darin, Lesen im frühen ChristentumChristentum im Horizont der antiken LesekulturLese-kultur zu untersuchen und damit ein neues Forschungsfeld für die neutestamentliche ExegeseExegese zu erschließen. Dabei ist im Folgenden zunächst herauszuarbeiten, inwiefern die existierenden Ansätze in der neutestamentlichen Forschung, die das Phänomen Lesen im frühen Christentum beschreiben, von einer Debatte in den Altertumswissenschaften beeinflusst und von einem problematischen Grundnarrativ geprägt sind. Dieses Grundnarrativ lässt sich komplexitätsreduziert wie folgt reformulieren:

      a) Da BücherBuch in der Antike teuer waren, konnten sich nur wenige Menschen Bücher leisten und damit lesen. b) Texte wurden grundsätzlich „lautLautstärkelaut“ vorgelesen. Und zwar weil man c) Texte in scriptio continuaSchriftscriptio continua nicht „leiseLautstärkeleise“ lesen konnte und d) die LiteralitätsrateLiteralität/Illiteralität in der Antike insgesamt, und im frühen Christentum insbesondere, äußerst gering war. Daraus wird geschlussfolgert: Die neutestamentlichen Schriften seien für das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt bestimmt gewesen. Dieses Narrativ setzt nicht nur ein problematisch gewordenes, auf das 19. Jh. zurückführbares Modell des frühen Christentums „als überwiegend ökonomischer, literarischer und bildungsmäßiger Unterschicht“9 voraus. Vielmehr unterstellt das Narrativ auch, dass Lesen in Antike und frühem Christentum ein rein auditivesauditiv Phänomen war, gegenüber dem gesprochenen Wort nur eine sekundäre Rolle spielte bzw. eine Hilfsfunktion hatte und von der heutigen Lesekultur fundamental zu unterscheiden ist. Im Sinne eines umfassenderen Verständnisses, das insb. auch den direkten Zugang zum SchriftmediumLese-medium einschließt, habe Lesen nur eine marginale Rolle gespielt. Ein gutes Beispiel für die aus diesem Narrativ folgende Marginalisierung und funktionale Unterordnung des Phänomens „Lesen“ ist das 2017 erschienene Dictionary of the Bible and Ancient Media.10 Es enthält zwei lange Artikel zu den Stichworten „Performance Criticism (Biblical)“Biblical Performance Criticism und „Performance of the Gospel (in antiquity)“ (insg. zehn Seiten), aber nur eine halbe Seite zum Stichwort „Reading culture“ und keinen Eintrag zum Stichwort „Reading“.

      Demgegenüber wird in dieser Studie anhand einer umfassenden Auswertung der Quellen herauszuarbeiten sein, dass Lesen in der Antike deutlich differenzierter zu beschreiben ist und auch als ein elaboriertes und eigenständiges Phänomen wahrgenommen wurde. Für die Schriften des antiken JudentumsJudentum und des antiken ChristentumsChristentum wird zu zeigen sein, dass die anvisierte Rezeptionssituation nicht generell auf den Modus des VorlesensRezeptionkollektiv-indirekt in einer Gruppe reduziert werden kann, sondern sich auch andere Formen der anvisierten Rezeptionsweise eindeutig nachweisen lassen. Im ersten Kapitel ist zunächst der Forschungsstand zu diskutieren. Dabei wird in einem ersten Schritt der Forschungsstand zum Lesen im frühen Christentum behandelt, in einem zweiten Schritt ist die altertumswissenschaftliche Debatte um das „lauteLautstärkelaut“ und „leiseLautstärkeleise“ Lesen in der Antike zu problematisieren, und in einem dritten Schritt werden die methodischen Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung systematisiert. Davon ausgehend werden unter 1.4 und 1.5 die Fragestellung und der Forschungsansatz sowie das methodische Vorgehen der vorliegenden Studie erläutert.

      1.1 Lesen im frühen Christentum – Zum Forschungsstand

      Eine Forschungsgeschichte zum Lesen im frühen ChristentumChristentum zu schreibenSchreiben, ist nicht möglich, da wir mit der paradoxen Situation konfrontiert sind, dass es keine umfassenden Spezialuntersuchungen zum hier zu erschließenden Forschungsfeld gibt und ein relativ geringes Interesse am LeseaktLese-akt als solchem festzustellen ist, wie oben bereits ausgeführt wurde. Allerdings ist das Thema mit zahlreichen etablierten Forschungsfeldern und -diskursen verwoben und berührt unzählige exegetischeExegese Einzelfragen. Zu den etablierten Forschungsfeldern und -diskursen gehören z.B.:

       liturgiegeschichtliche Fragen nach der Genese des christlichen Gottesdienstes;

       die alte Frage über den literarischen Charakter der neutestamentlichen Texte, der z.B. einflussreich von Overbeck und Deissmann vehement in Frage gestellt wurde,1 bzw. die Frage nach der literaturgeschichtlichen Einordnung und den intendierten AdressatenAdressat neutestamentlicher Texte;

       die Frage nach MündlichkeitMündlichkeit und SchriftlichkeitSchrift-lichkeit sowie der LesefähigkeitLese-fähigkeit (s. auch Literalität) in Antike und frühem ChristentumChristentum;

       die Frage nach der Angemessenheit von methodischen Zugängen zum NT aus den Literaturwissenschaften, insbs. die RezeptionsästhetikRezeptionsästhetik (reader response criticism).2

      Die Situation wird zusätzlich dadurch verkompliziert, dass einige dieser Forschungsdiskurse in einem besonderen Maße interdisziplinär mit anderen altertumswissenschaftlichen Disziplinen vernetzt sind. Diese Diskurse und ihr Bezug zum Thema „Lesen“ können hier im Einzelnen nicht dargestellt werden. Im Folgenden werden wichtige Forschungsbeiträge zum Thema entlang von drei Kontextualisierungsparadigmen diskutiert, in denen unterschiedliche Zugänge gewählt werden, um Lesen im frühen ChristentumChristentum zu beschreiben. Weil diese Kontextualisierungsparadigmen von der in den Altertumswissenschaften umfangreich diskutierten Frage nach dem „lautenLautstärkelaut“ und „leisenLautstärkeleise“ Lesen abhängig sind, ist darauffolgend diese Debatte ausführlicher darzustellen, bevor dann systematisch die methodischen Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung darzulegen sind. Abschließend wird die Fragestellung und der Forschungsansatz der vorliegenden Studie entfaltet und die Beschreibungssprache eingeführt.

      1.1.1 Lesen im „Gottesdienst“ bzw. in der „Gemeindeversammlung“

      Gemeinde-versammlungDas Thema „Lesen im frühen ChristentumChristentum“ ist forschungsgeschichtlich eng verbunden mit der liturgiegeschichtlichen Frage nach Entstehung und Entwicklung des christlichen Gottesdienstes und insbesondere mit der Frage nach einem „Wortgottesdienst“, der als Gegenüber zum „eucharistischen GottesdienstGottesdienst“


Скачать книгу