Die Flucht in den Hass. Eva Reichmann
erhalten.
Bevor wir daran gehen, die Ursachen dieser Tatsachen festzustellen, möchten wir zum Verständnis unserer Gesamtdarstellung eine grundsätzliche Bemerkung machen. Wir werden uns im allgemeinen einer Wertung der von uns dargestellten Tatsachen enthalten. Die jüdische Gruppenidentität zum Beispiel interessiert uns nur in ihrer soziologischen Bedeutung. In dieser Hinsicht wird sie als eine Erschwerung der jüdisch-nichtjüdischen Beziehungen in Erscheinung treten. Wir sind uns wohl bewußt, daß vom jüdischen Standpunkt aus diese Erschwerung in hohem Maße dadurch kompensiert wird, daß die Erhaltung jüdischer Gruppenmerkmale die Voraussetzung jüdischen Eigenlebens überhaupt ist. Unsere grundsätzliche Frage betrifft aber nicht in erster Linie den Wert oder Unwert jüdischen Eigenlebens, sondern sie lautet: Ist aus der Tatsache, daß rund 43 % der deutschen Wähler im Jahre 1933 dem scharf antisemitischen Nationalsozialismus ihre Stimmen gegeben haben, zu schließen, daß sich das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden als unmöglich erwiesen hat? Oder welche anderen Schlüsse sind gegebenenfalls aus dieser Tatsache zu ziehen? Wo wir in Abweichung von der voraussetzungslosen Analyse subjektive Werturteile abgeben, werden wir das von Fall zu Fall bemerken.
Es besteht zweifellos ein Widerspruch zwischen der Prognose, die sowohl Emanzipatoren wie Emanzipierte – obwohl manchmal uneingestandenermaßen – der Zukunft der jüdischen Gruppe am Beginn der Emanzipation stellten, und dem Ablauf, den die Entwicklung tatsächlich genommen hat. Wenn wir das Wesen der jüdischen Gemeinschaft vor der Emanzipation als national-religiös bezeichnen, womit sie zwar nicht erschöpfend, aber in ihren sichtbarsten Unterscheidungsmerkmalen gekennzeichnet ist, so besagte der Emanzipationsakt, daß die nationale Absonderung fortan aufhören und die religiöse rechtlich unerheblich werden sollte. Die erste Forderung wurde nahezu uneingeschränkt, die zweite weitgehend erfüllt. Trotz dieser Niederlegung bisher trennender Schranken jedoch und trotz der inneren Schwäche der verbleibenden religiösen Unterschiede sind die Juden als eine deutlich unterscheidbare Bevölkerungsgruppe bestehengeblieben.
Die höchst bemerkenswerte und historisch unvergleichbare Tatsache, daß das Judentum nach dem Verlust eines eigenen Territoriums zweitausend Jahre fortexistiert hat, hat ihren Deutern zu allen Zeiten ein außerordentlich schwieriges Problem gestellt. Die scheinbare Regelmäßigkeit, in der Anziehung und Abstoßung zu den verschiedensten Zeiten und in den verschiedensten Räumen wiederkehrten, der häufige freiwillige oder gewaltsame Substanzverlust, der trotzdem niemals zur Auflösung der gesamten Judenheit führte, haben verständlicherweise dazu herausgefordert, an das Walten einer inneren Gesetzmäßigkeit zu glauben, die den Juden ein ewiges Leiden als den Preis eines ewigen Lebens auferlegte. Wir sind im Rahmen dieser Untersuchung weder mit der Unterstützung noch mit der Widerlegung einer derartigen Geschichtsphilosophie befaßt. Es genügt uns daher, darauf hinzuweisen, daß die Fortexistenz der jüdischen Gruppe während der Emanzipationsepoche auch ohne eine solche Philosophie hinlänglich zu erklären ist. Wir werden uns bei unserer Beweisführung im folgenden auf den Emanzipationsprozeß in Deutschland beschränken, weil er von den Juden anderer Länder im Gelingen und im Versagen vielfach als eine Art von Idealtypus für den Ablauf einer Judenemanzipation überhaupt aufgefaßt wird.
Wie überall hatten die Juden in Deutschland – abgesehen von einer zahlenmäßig unbeträchtlichen Minderheit – bis zum Beginn der Emanzipation ihre mittelalterliche Verfassung fast ungeschmälert bewahrt. Sie lebten auf deutschem Boden, aber in religiöser, kultureller, rechtlicher, sozialer und örtlicher Abgeschlossenheit. Dem Zwang zum Ghetto hatte bis zuletzt als Kompensation eine vollgültige innere jüdische Kultur entsprochen. Die jüdische Kultur und ihre Werte wurden im Ghetto ausnahmslos festgehalten. Das Maß ihrer Strenge, die in der Außenwelt bald als Starrheit, bald als Arroganz empfunden wurde, mag dem Maße des von außen ausgeübten Druckes, der Verfolgung und Verachtung direkt entsprochen haben. Jedenfalls aber war die Verachtung gegenseitig. Als die Tore des Ghettos geöffnet wurden, war die Masse der festgefügten jüdischen Gemeinschaft nicht darauf vorbereitet. Man begriff zwar, daß ein gewaltiger Fortschritt in allen Lebensverhältnissen in Aussicht stand, und widersetzte sich ihm nur in Ausnahmefällen, aber die seelische und geistige Vorbereitung der großen Mehrzahl der Ghettoinsassen unterschied sich weitgehend von der der jüdischen Elite, welche die gesellschaftliche Emanzipation schon vor der rechtlichen vollzogen hatte. Das heißt: die deutschen Juden traten mit dem vollen Inhalt ihrer jüdischen Tradition, aber auch mit ihrem ganzen Schwergewicht den Weg in ihre Umwelt an. Mit jeder Etappe dieses Weges wurden Teile der Tradition aufgegeben, wurde die Bürde des Gesetzes erleichtert; zunächst verloren sich die nationalen Eigentümlichkeiten der Sprache, der Tracht, der Wohnviertel, des eigenen Rechtes; dann wurden die religiösen Vorschriften gemildert und angeglichen. Schließlich verblieb in gewissen jüdischen Kreisen – zumal in den Großstädten – kaum noch ein anderes subjektives Unterscheidungsmerkmal als die nominelle Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft, und selbst dieser wurde häufig genug durch Taufe oder Austritt ein Ende gemacht. Aber selbst als die vierte emanzipierte Generation heranwuchs, bildete diese äußere Form des Abfalls noch immer eine Randerscheinung innerhalb der deutschen Judenheit, und sie wurde durch den Einfluß eines weit positiveren Provinzjudentums mehr als ausgeglichen. Die jüdische Substanz, mit der die deutschen Juden in den Emanzipationsprozeß eingetreten waren, hatte ausgereicht, um ihre überwältigende Mehrheit durch 120 Jahre fortgesetzter Abschleifung hindurch als Juden zu erhalten.*
Aus dieser – gewaltsam vereinfachenden und schematisierenden – Schilderung geht zunächst zweierlei hervor: einmal, daß die Juden den natürlichen Vorgang der allmählichen Assimilation einer Minderheit an eine Mehrheit an sich geschehen ließen. Als Akteure spielten sie bald eine vorwärtstreibende, bald eine retardierende Rolle. Entscheidend jedoch war nicht ihr aktiver Einfluß, sondern ihre passive Einfügung in den Prozeß.** Ferner können wir schließen, daß der Grad der Assimilation wesentlich von der Länge der Zeit abhängt, während der eine jüdische Gemeinschaft dem Assimilationsprozeß ausgesetzt ist. So sehr man diese Tatsache von dem Standpunkt eines positiven Judentums aus bedauern mag, weil sie die Auflösung der jüdischen Gemeinschaft bei ungestörtem Fortgang des Assimilationsprozesses als unausbleiblich erscheinen läßt, so kann sie doch auch im Hinblick auf die deutsch-jüdische Entwicklung nicht geleugnet werden. Die Anziehung der nichtjüdischen Mehrheit auf die jüdische Minderheit bildete während der Epoche der jüdischen Emanzipation in Deutschland die herrschende Tendenz, die sich – gegen zahlreiche Hemmungen – durchsetzte. Wäre die Zeit nicht auf nur drei bis vier Generationen beschränkt gewesen, und wären nicht andere Faktoren hinzugetreten, die den beschriebenen Ablauf hemmten oder umkehrten, so hätte der jüdische Lebenswille nicht ausgereicht, ein Aufgehen der jüdischen Minderheit in der deutschen Mehrheit zu verhindern.
Es traten jedoch andere Faktoren hinzu, deren wichtigster die Haltung der Umwelt war. Es zeigte sich sehr bald, daß die breiteren Schichten des deutschen Volkes – aber auch Teile der führenden Elite – nicht bereit waren, es widerspruchslos hinzunehmen, daß die Juden als gleichberechtigte Glieder in den sozialen Körper eindrangen. Dieser Widerstand, seine Folgen und Nebenwirkungen bilden den wesentlichen Teil der Geschichte der Emanzipation. Diese hängt wesentlich von dem Charakter der Gesellschaft ab, die eine emanzipierte Minderheit aufzunehmen bestimmt ist. Handelt es sich um eine auf Konkurrenzwirtschaft beruhende Gesellschaft, so wird das Eindringen einer Minderheit in den meisten Fällen als Erschwerung des Konkurrenzkampfes empfunden, es sei denn, daß die von der Minderheit ausgeübten Gewerbe in der Mehrheit noch nicht vertreten sind. Selbst dann besteht die Gefahr, daß die Mehrheit sie von der Minderheit schneller übernimmt, als der Gruppencharakter der Minderheit sich verliert, und daß auf diese Weise später doch noch das Konkurrenzmotiv in die Gruppenspannung eintritt. Gerade das traf auf die jüdische Gruppe in Deutschland zu. Ihr anfängliches Monopol im Geld- und Kleinhandel wurde allmählich sowohl von ihr selbst als auch von der Mehrheit durchbrochen. Die beiderseitige wirtschaftliche Annäherung vermehrte die Konkurrenzfurcht auf seiten der Mehrheit. Doch war das Konkurrenzmotiv nicht das einzige, das dazu führte, daß dem Willen zur Einordnung der Juden nicht in gleichem Maße eine Bereitschaft zur Aufnahme auf der Seite der Deutschen entsprach. Es war eine Abwehrhaltung wirksam, auf deren Natur später ausführlicher eingegangen wird. Diese abwehrende Haltung verlor allerdings