Mords-Stünzel. Wolfgang Breuer
Sie’s sagen … Hab’ Sie doch noch nie in Uniform gesehen.“ Winnie war weit angenehmer in seiner Haut, als er erfuhr, dass er es mit einem Wittgensteiner Beamten zu tun hatte. Wenngleich er sich ja keiner Schuld bewusst war. Aber die Polizei war für ihn immer etwas Respekteinflößendes gewesen. Das hatte sich bis in sein siebtes Lebensjahrzehnt nicht geändert. „Wenn de net parierst, holt Dich de Polizei. Un dann kommste ins Loch.“ So hatten die Alten immer wieder bedingungslose Loyalität eingefordert. Und das funktionierte.
„Wo liegt denn die Frau?“, drängte der Notarzt. „Können Sie uns dahin bringen?“
„Natürlich. Kommense!“ Winnie setzte sich in eine Art Trab. Stimmte ja. Für den Arzt durfte keine Zeit vergehen.
Hinter ihm rannte jetzt eine kleine Armada her, rüber auf den Seitenweg im Buchenwald. Notarzt, Sanitäter, Jürgen Winter und ein weiterer Polizist. Im Laufen rief Winter den vier anderen Kollegen zu: „Bitte die Personalien der Händler und Schausteller aufnehmen und befragen! Niemand fährt oder geht weg, bevor nicht die Kripo hier ist!“
„Na, das kann ja noch heiter werden heute!“, rief eine Frau, die sich vor ihrem Brezelwagen aufgebaut hatte.
„Das ist mir zu dunkel hier drin!“, rief der Notarzt aus dem Anhänger heraus. Könntet Ihr mal hinten die Klappe aufmachen?“
„Aber bitte nur mit Handschuhen!“, befahl Winter. „Wegen der Fingerabdrücke. Lasst Euch welche vom Rettungssanitäter geben.“
Als die Klappe heruntergelassen war, lag die junge Frau da wie auf einer Show-Bühne. Ihr dunkles, langes Haar umgab ihr Gesicht wie eine Corona. Und gnädig beleuchtete die milchige Junisonne dieses Drama. Wenngleich die Schöne im Stroh von draußen gar nicht wie tot aussah. Nur extrem blass und mit fragendem Blick. Doch der Mediziner bestätigte jetzt offiziell ihr Ableben und schloss ihre Augen. Vor mindestens zwölf Stunden sei sie gestorben, stellte er fest, nachdem er den Leichnam genauer angeschaut und die Umgebung gesichtet hatte. Die Todeszeit könne man vage anhand der Leichenstarre bestimmen, die intensiv ausgeprägt war.
„Es ist jetzt 9.40 Uhr“, begann Jürgen Winter zu rechnen, „minus zwölf Stunden. Das wäre um 21.40 Uhr gewesen.“
„Ja, gehen Sie mal davon aus, dass sie grob gerechnet zwischen neun und elf Uhr heute Nacht starb.“ Der Notarzt packte seine Utensilien zusammen und stellte einen Totenschein aus. Todesursache: „Vermutlich Äußere Gewalteinwirkung, Fraktur des Os hyoideum wahrscheinlich.
Bitte lassen Sie alles weitere durch einen Kollegen vom Rechtsmedizinischen Institut untersuchen. Die Sache ist mir nicht geheuer. Die Frau hat mehrere Einstichstellen in der linken Armbeuge. Darunter eine recht frische. Aber ich kann in dem Wagen hier keinerlei Spritzutensilien finden. Dazu scheint mir ihr Zungenbein gebrochen zu sein. Beides würde einen natürlichen Tod nahezu ausschließen.“
„Na bravo“, kommentierte Winter die ärztliche Feststellung und wandte sich an den Kollegen Rüdiger Mertz, der ihn begleitet hatte. „Kannst Du bitte die Kollegen von der Kripo informieren, dass wir das ‚große Besteck’ aus Siegen brauchen?“ Gemeint waren damit Rechtsmedizin und Spurensicherung.
„Klar, mach’ ich.“ Der Polizeihauptmeister ging ein paar Schritte zur Seite und setzte die Info per Smartphone ab. Auf der anderen Seite hatte sich Corinna Lauber gemeldet, die frisch zur Kriminaloberkommissarin befördert worden war. Die allseits beliebte Kollegin hatte Wochenenddienst und war sofort an der Strippe. „Hatte mich schon vorbereitet, dass da eventuell noch was dazu kommt. Bin schon fast bei Euch. Ich fahre gerade an Hemschlar vorbei. Okay, ich rufe sofort in Siegen an. Bis gleich.“
Wenige Minuten später kam Corinna in ihrem zivilen Dienst-Mondeo angerauscht. Besser, sie wurde angerauscht. Denn nicht sie saß am Steuer, sondern Sven Lukas, der ‚Freak’. Sie hatte ihn auf der Fahrt von ihrem Wohnort Girkhausen in der Wache in Berleburg aufgesammelt und von seinen schon fast manisch betriebenen Internet-Recherchen weggezerrt. „Komm“, hatte sie gesagt. „Das auf dem Stünzel ist realer als alles, was Du hier aus dem Netz ziehen kannst.“
„Stimmt“, hatte er gegrinst. „Das war schon ganz schön real, was ich gestern auf dieser Fete im Wald erlebt hab’. Ich war ja vorher noch nie da und hab’ mir die Augen gerieben, als ich sah, was da abgeht. Vor allem, was da weggeschluckt wird. Alte Schwedin“, lachte er, als sie die Treppe runter zum Wagen liefen.
„Mit der meinst Du aber jetzt nicht mich“, hatte sie sich kokett zur Wehr gesetzt.
„Mit der Schwedin, meinst Du? … Nee, die ist bedeutend älter.“
Es wurde eine fröhliche Fahrt aus einem todtraurigen Anlass. Diesen Widerspruch können Außenstehende nur schwer verstehen. Deshalb dringt so etwas auch selten nach ‚draußen’. Für viele der Polizeibeamten sind solche Spaß-Situationen einfach überlebenswichtig. Ohne einen gewissen Galgenhumor würden sie nämlich ihre häufig erschütternden Diensterlebnisse nicht heil an Geist und Seele überstehen. Und das hier war halt mal eine Portion ‚Humor zur Prophylaxe’. Bei der Einfahrt in den Festplatz, entlang der aufgereihten Händlerfahrzeuge, zischte Corinna dann auch: „So, aufhören mit Grinsen. Dienstgesicht bitte. Wir sind da.“
„Die sind da drüben“, hatte ihnen eine Kollegin bedeutet, die gerade bei einer Zeugenbefragung im Streifenwagen saß. Mit einer Kopfbewegung deutete sie ihnen den Weg an. Und während die beiden Kripo-Leute zum ‚Tatort’ liefen, meinte Sven: „Sieht ganz schön trostlos aus jetzt. Gestern steppte hier der Bär. Mann oh Mann.“
„Das scheint Dich ja ganz schön beeindruckt zu haben, die Trinklust meiner Landsleute“, lachte Corinna.
„Nee, das war nur geiles Beiwerk. War echt was geboten. So richtig nachhaltig beeindruckt hat mich aber eigentlich nur Kathrin, die ich gestern hier kennengelernt habe. Eine tolle Frau. Lebt in Laasphe und studiert an der Uni in Siegen. Wenn’s klappt, dann werde ich sie morgen Abend ab…“
„Dann wirst Du sie morgen Abend was?“, wollte Corinna wissen.
Sven kam nicht weiter. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf die Tote, die sie hinter einer Art Paravent fanden. Winter und Mertz warteten dort. Der Notarzt war bereits gefahren.
„Nee“, verbesserte Sven Lukas seinen Satz von eben, wobei er sich fast anhörte wie ein Roboter, so seltsam statisch klang seine Stimme, „nee, ich werde sie morgen Abend nicht abholen.“ Dann stiegen ihm Tränen in die Augen.
„Lukas? … Lukas? Hey, was ist los mit Dir?“, wollte Corinna wissen.
Doch er antwortete nicht.
„Kennst Du die Frau?“
Er nickte stumm.
„Wer ist das?“ Corinna erahnte die Antwort zwar. Aber sie wollte sie von dem Kollegen hören. „Ist das etwa Kathrin?“
„Ja“, brachte er unter Schlucken hervor, „das ist …, das ist Kathrin. Kathrin Kögel, gestern 24 Jahre alt geworden.“ Weiter kam er nicht. Sven drehte ab und ging langsam ein Stück in den Buchenwald hinein. Jürgen Winter folgte ihm mit einigen Schritten Abstand. Bis der schwer angeschlagene Kriminalhauptmeister stehen blieb. Jürgen legte seinen Arm um dessen Schulter und zog seinen Kopf nahe an sich.
„Heul’s raus, Junge. Das tut gut. Und schäm’ Dich nicht deswegen. Keinem von uns ginge es anders.“
„Aber ich hab’ sie doch erst gestern Mittag kennengelernt. Das gibt’s doch gar nicht, Mensch“, kam es mit weinerlicher Stimme zurück.
Jürgen blieb stumm. Was hätte er auch antworten sollen. ‚Das Schicksal ist eine Hure’, dachte er bei sich. ‚Sie arbeitet präzise nach Auftrag. Nur, woher der Auftrag kommt und wer sie dafür bezahlt, das ist nicht bekannt.’
So standen sie eine ganze Weile. Und Sven Lukas schien sich langsam zu beruhigen. Mit geröteten Augen schaute er nach einer ganzen langen Weile fast beschämt auf zu dem Kollegen, der ihn noch immer im Arm hielt. „Es ist so scheiße, das Ganze!“, rief er plötzlich, machte sich frei und ging zurück zu dem Pferdeanhänger. Jürgen folgte ihm.
„Geht’s