„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Die Lebensgeschichte der Susanne Bechstein. Susanne Bechstein
wohl besser in ein Kinderheim gegangen. Bei meinen Pflegeeltern durchlebte ich die Hölle. Ich wurde brutal geschlagen, mein kleiner Körper war voller blauer Flecken. Einmal musste ich mit meinem Kopf in ein Ofenloch kriechen, dann schlug mein Pflegevater meinen Hintern mit einem Ledergurt grün und blau, nur weil ich die Katze vom Tisch gescheucht hatte, die von meinem Teller fressen wollte.“
Ich war von Rudolfs Schilderungen so schockiert, dass mir die Tränen über das Gesicht liefen. Er tat mir unendlich leid. Ich fragte ihn, warum seine Pflegemutter nicht eingegriffen hatte.
„Die wurde ja auch ständig von ihm geschlagen“, antwortete er. „Nach der Schule musste ich sofort nach Hause kommen. Und wehe, ich verspätete mich! Bereits auf dem Heimweg fing ich an zu zittern, weil ich wusste, was mich erwartete. In der Schule hatte ich zwei Freunde, Walter und Rolf, mit denen ich so gerne gespielt hätte. Aber es sollte nicht sein. Nachdem ich meine Schularbeiten gemacht hatte, musste ich mich um die Tauben und die Ziegen kümmern. Mein Pflegevater hatte eine große Taubenzucht und Tiere bedeuteten ihm mehr als Menschen. Schon als kleiner Junge musste ich den Tauben mit einem Beil den Kopf abschlagen und er ließ sie dann auf diese Weise verstümmelt herumfliegen. Noch heute sehe ich diese grausamen Bilder vor mir. Am Sonntag gab es immer Taubenbraten und ich hätte am liebsten quer über den Tisch gekotzt. Aus Angst vor Strafe aß ich meinen Teller jedoch leer.“
Ich sagte zu Robert: „Das ist ja grausam, was du erlebt hast!“ Dann fragte ich ihn, warum er das alles nicht der Frau vom Jugendamt erzählt hatte. Sie kam doch einmal im Monat ins Haus und wollte von ihm wissen, wie es ihm in der Familie gefiel.
„Weißt du, Doris, manchmal war mein Pflegevater auch nett zu mir. Dann schenkte er mir Geld, sodass ich mit meinen Freunden ins Kino gehen konnte. Außerdem hatte ich reichlich zu essen. Und was ganz wichtig war: Ich hatte Schuhe! Das konnte so kurz nach dem Krieg nicht jeder von sich behaupten. Also habe ich zu der Frau gesagt, dass es mir bei meinen Pflegeeltern gut gefiel.“
Weitere Einzelheiten möchte ich dem Leser ersparen, auch wenn heutzutage offen über solche Themen gesprochen wird. Roberts Erzählungen gingen aber weiter:
„Ich hatte die Schule beendet und wurde zusammen mit Walter und Rolf eingesegnet. Zu diesem Anlass bekam ich einen schönen Anzug. Wir Jungen waren an diesem Tag so glücklich. Anschließend begann ich eine Lehre als Schreiner. Mein Pflegevater vertrat die Meinung, dass es sich für mein späteres Leben auszahlen würde, wenn ich ein Handwerk erlernte. Von diesem Zeitpunkt an ließ ich mir nichts mehr von ihm gefallen. Wenn er mich schlagen wollte, drohte ich ihm damit, es dem Jugendamt zu melden. Als ich meine Lehre beendet hatte, mein eigenes Geld verdiente und mich häufig mit meinen Freunden traf, gab es immer öfter Streit, wenn ich spät heimkam. Als ich wieder einmal nicht pünktlich zum Essen nach Hause kam, erwartete er mich bereits an der Tür und schlug mir mit der Faust ins Gesicht. Jetzt war ich am Zuge. Ich stellte diesen alten Sadisten an die Wand und ließ meine ganze Wut und das Leid, das ich all die Jahre ertragen hatte, an ihm aus. Ich schlug so lange zu, bis er am Boden lag. Meine Pflegemutter – ich nenne sie mal „Frieda“ – griff nicht ein. Stattdessen nickte sie nur. Anschließend packte ich meinen Koffer und fuhr zu meinem Freund Walter und dessen Familie, die mich ohne zu zögern aufnahmen. Erst jetzt konnte ich mit jemandem über das Erlebte sprechen. Walters Familie war der Meinung, dass man den Mann anzeigen müsste. Ich habe meinen sadistischen Pflegevater nie wiedergesehen.“ Robert ließ das Gesagte kurz sacken und erzählte schließlich weiter:
„Walter arbeitete bei der Bahn und Rolf hatte die Absicht, Schauspieler zu werden, wie seine Eltern es waren. Sein Vater Franz hatte in dem Spielfilm „Kahn der fröhlichen Leute“ mitgespielt, der damals noch in Schwarz-Weiß gedreht wurde. Rolfs Idee zerplatzte allerdings schon bald wie eine Seifenblase. So beschlossen wir drei, gemeinsam zur Volksarmee zu gehen, um dem Volke in der DDR zu dienen. Allerdings wurde uns von nun an verboten, in den Westteil rüberzugehen. Das hielt uns jedoch nicht davon ab, wenn wir frei hatten und keine Uniform trugen, nach drüben zu gehen, wenn es einen neuen amerikanischen Spielfilm gab. Wir wurden überall eingesetzt. Beispielsweise mussten wir die Grenzen bewachen, nicht nur in Berlin, auch außerhalb im Osten. Wir unterhielten uns mit den Grenzsoldaten über die Sperrzonen, in denen die Soldaten aus dem Westen standen. Für uns junge Burschen war das alles aufregend und wir hatten viele Freunde, die bei der Armee waren. Der Westen reizte mich immer mehr, zumal es mir dort auch möglich war zu arbeiten. Immer mehr Menschen verließen den Osten, um in Westberlin ein besseres Leben zu führen. Wir mussten uns in Marienfelde im Aufnahmelager melden, um im Westen bleiben zu können.“ Hier unterbrach ich Rudolf und berichtete ihm, dass wir ebenfalls geflüchtet waren und Ähnliches durchgemacht hatten.
„Erzähl doch mal, wo ihr herkommt“, bat er mich. „Und warum seid ihr geflüchtet?“
Ich winkte ab. „Nein, Rudolf, dafür reicht die Zeit heute nicht aus. Es wäre eine zu lange Geschichte. Ein anderes Mal spreche ich gern darüber. Erzähl du ruhig weiter!“
Inzwischen waren wir fast die Letzten und es ging schon auf den Morgen zu. Wir hatten in dieser Samstagnacht unser Umfeld völlig vergessen, es gab nur noch uns beide. Tatsächlich sprach er weiter. Nach einer Weile sagte er: „Ich weiß gar nicht, warum ich dir das alles erzähle. Eigentlich spreche ich mit niemandem über mein Leben, aber zu dir hatte ich von Anfang an Vertrauen.“ Er lächelte und fuhr fort: „Natürlich wurden unsere Westbesuche beobachtet, und eines Tages wurden Walter, Rolf und ich aufgefordert, in das Büro unseres Kommandanten zu kommen. Uns ging natürlich ganz schön die Muffe. Doris, du glaubst nicht, was sie uns alles vorgeworfen haben! Angeblich hatten wir unseren Eid als Soldaten gebrochen und geplant, gemeinsam in den Westen zu fliehen. Was wir zu unserer Verteidigung vorzubringen hatten, wollten sie sich gar nicht anhören. Wir mussten unsere Waffen abgeben und wurden fürs Erste mit Arrest bestraft. Was hatten sie als Nächstes mit uns vor? Uns beherrschte die Angst, dass sie uns einsperren würden. Wir waren doch nur junge Burschen von nicht einmal zwanzig Jahren, die nichts Böses im Sinn hatten. Sie setzten sich mit unseren Familien in Verbindung. Walters Vater war ein hohes Tier bei der Partei, der, wie es schien, die Sache für uns in Ordnung brachte. Auf einmal durften wir wieder an allem teilnehmen, ohne dass man mit uns darüber sprach, was zu dieser Entscheidung geführt hatte. Und Fragen zu stellen, das kam für uns nicht infrage. Wir waren doch nur froh, dass die Sache für uns keine schlimmeren Folgen hatte. Aber der Westen reizte mich doch sehr, zumal ich keine Eltern hatte wie Walter und Rolf, die ja noch zu Hause lebten. Und weil ich wusste, wo meine noch lebenden Geschwister wohnten, war es für mich ein Leichtes, zu ihnen in den Westen zu flüchten. Ich dachte: Endlich bist du in Freiheit und kannst tun und lassen, was du willst. Ich nahm Kontakt zu meinen Geschwistern auf und Gerda bot mir an, bei ihr und ihrer Freundin Erna zu wohnen, bis ich im Aufnahmelager in Marienfelde alle Formalitäten hinter mich gebracht hatte. Nach meiner Anerkennung als Flüchtling suchte ich mir eine Stellung in meinen Beruf als Schreiner. Unseren Führerschein hatten wir drei Freunde bei der Volksarmee gemacht. Wie gesagt, ich arbeite inzwischen als Kraftfahrer, wo ich mehr Geld verdiene.“
Das war unser Kennenlernen an einem Samstag im August. Mein Herz hatte sich für diesen jungen Mann weit geöffnet, der mit seinen zweiundzwanzig Jahren innerlich zerbrochen war. Auf einmal hielt ich mein eigenes Leben nicht mehr für so wichtig. Am frühen Morgen – es wurde bereits hell – begleitete mich Rudolf bis zur U-Bahn. Ich fuhr in Richtung Innsbrucker Platz, wo ich bei einem älteren Ehepaar, das ebenso wie ich mit Nachnamen „Lange“ hieß, als Untermieterin wohnte. Von dem Tag an trafen wir uns, so oft es unsere Zeit erlaubte, und aus der anfänglichen Sympathie wurde Liebe. Und natürlich hegte ich Mitgefühl für Rudolfs Lebensgeschichte. Er lebte als Untermieter in einem möblierten Zimmer, das sich in Kreuzberg SO 36 in der Wrangelstraße befand. Wenn er Feierabend hatte, ging er in seine Eckkneipe, zumal die Wirtin für ihre Gäste auch Mittagessen kochte. So manches Mal trafen wir dort zusammen. In dieser Kneipe lernte ich auch Rudolfs Bruder Fredi kennen, der nach Feierabend gelegentlich dort sein Bierchen trank. Er und seine Frau Lilo lebten, verbunden mit einer Hauswartstelle, in einer Neubauwohnung in der Waldemarstraße/Ecke Pücklerstraße. An eine Neubauwohnung zu gelangen, war zu der damaligen Zeit schwierig.
Wenn ich Rudolf besuchte, um bei ihm zu nächtigen, zog ich mir schon im Flur die Schuhe aus, damit seine Vermieterin, Frau Schulz, nichts davon mitbekam. Trotzdem knarrten die verdammten Treppenstufen!