"Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt". Barbara Halstenberg


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dem Kinderwagen umgekippt, in dem sie geschlafen hatte. Sie war völlig unverletzt gewesen und muss erstickt sein. Meine Mutter war zwischen Trümmern eingeklemmt gewesen und konnte sich nicht befreien. Von meinem Bruder weiß ich nichts. Das kann so stimmen, muss aber nicht.

      Auf dem Pfarrhof wurde später eine Grube ausgehoben, in der alle Toten beerdigt wurden. Ich erinnere mich, dass die Leute noch Wochen in den Trümmern wühlten. Von Zeit zu Zeit wurde das Grab wieder geöffnet und wieder ein Bündel mit Leichenteilen beerdigt. Es waren dann nur noch Leichenteile – Arme und Beine –, richtige Menschen fanden sie nicht mehr. Einmal hatte ich in den Trümmern die Überreste eines beigefarbenen Kinderwagens gesehen. Erst viel später wurde mir bewusst, dass es sich um den Wagen gehandelt haben musste, in dem meine kleine Schwester gestorben war, denn es gab nur den einen Kinderwagen in der Krypta.

      Als Siebenjähriger machte ich mir Gedanken: ›Haste denn da nun was entheiligt? Hättste da gar nicht zum Altar hochgehen dürfen? Das ist ja dem Pfarrer oder der Geistlichkeit vorbehalten, und du bist einfach da hingegangen, wo du nichts zu suchen hast! Mensch, das hättste nicht machen sollen, jetzt ist der liebe Gott vielleicht ganz böse, dass du da rumgeklettert bist.‹ Als Kind deutete ich das Ereignis ganz anders. Es ist aber auch eine Gnade, dass man in dem Alter noch nicht alles begreifen kann – mit sieben Jahren …

      Irgendwann kam der Alltag wieder. Inzwischen war es Mai. Die ersten Vögel saßen in den grünen Laubbäumen im Pfarrhof und zwitscherten. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass einer nicht begriffen hat, wie die Welt einfach so weitergehen konnte … (Er weint.) Jetzt muss ich sagen, es war so. Die Vögel zwitscherten, und wir Kinder spielten wieder auf dem Hof. Trotzdem war für mich nichts mehr wie vorher.

      Die Russen hatten mittlerweile mit ihren Ponys in unserem Hof Station gemacht. Der ganze Hof war voller Pferdeäpfel. Wir Kinder wollten die Ponys streicheln, aber das durften wir nicht. Anscheinend waren sie bissig oder an Kinder nicht gewöhnt. Wir Kinder spielten wieder auf dem Hof. Der Alltag musste losgehen, um über das Schlimme hinwegzukommen, das hatten wir begriffen. In den Schuttbergen suchten wir nach den goldenen Mosaiksteinchen, mit denen die Kirchenkuppel verziert gewesen war. Der Bombeneinschlag hatte auch das Mosaik zerstört. Auf dem Schuttberg glitzerten die Steinchen in der Frühlingssonne. Goldene, blaue und grüne Steinchen – wunderschöne Steine, die mir heute noch gefallen würden. Wir Kinder erfanden damit ein Spiel. Wer die schönsten Steine oder die meisten von den goldenen hatte. Die roten und die grünen Steinchen waren selten, von den goldenen gab es am meisten. Wir tauschten sie untereinander. Mit diesen Spielen lenkten wir uns ab. Das kann sich heute keiner mehr vorstellen. Kein Kind würde sich dafür interessieren. Aber damals war das eine Attraktion.

      Meine Tante hatte mit meinem Cousin im öffentlichen Luftschutzraum überlebt und wohnte nun in unserer Wohnung. Nachdem ich einige Zeit bei den Schwestern gewohnt hatte, zog ich zu dieser Tante in unsere Wohnung zurück. Ich kannte sie gar nicht, sie war aus dem Osten nach Berlin geflüchtet. Ich hatte sie vorher noch nie gesehen.

      Alle, die überlebt hatten, hatten mit sich selbst zu tun. Es war nicht so: »Ach, da ist ja der kleine Winfried, den werden wa mal zu uns nehmen!« Ich wäre auch bloß eine Belastung gewesen. Wenn die Schwestern nicht gewesen wären, die das vielleicht von Beruf aus so machen, dann wäre es mir wahrscheinlich ganz schön mies ergangen damals. Die Schwestern hatten viel zu tun. Sie pflegten die vielen Verletzten und mussten die Organisation der Pfarrei übernehmen. Der Pfarrer, ein Kaplan und sechs Schwestern waren bei dem Einsturz gestorben, die ganze Leitung war nicht mehr da.

      Irgendwann im Sommer kam mein Vater zurück. Er war in der Flugzeugindustrie dienstverpflichtet gewesen. Nun waren wir eben beide alleine … bis er eine neue Frau kennenlernte und eine neue Familie gründete. Ich habe keine leiblichen Geschwister mehr, aber Halbgeschwister und Stiefgeschwister, da machen wir überhaupt keinen Unterschied.

      Als ich vor zwei Jahren das erste Mal wieder den Kirchhof betrat und die Grabinschriften las, erinnerte ich mich an einige Namen wie den von Herrn Seeliger. Er hatte damals seine 18-jährige Tochter und seine Frau bei dem Einsturz verloren. Er war als Einziger übrig geblieben. Er hat sie selber ausgegraben. In der Nacht hatte er noch immer geglaubt, er fände sie lebend.

      Da ist noch vieles zu erzählen. Ich denke zum Beispiel an den Bruder von meinem Spielkameraden. Der Conrad muss bei Kriegsende ungefähr fünfzehn gewesen sein. Seine Mutter hatte ihn in den letzten Kriegsmonaten vor den Nazis versteckt. Ich weiß nicht, ob Sie davon gehört haben? Zum Schluss liefen die Nazis mit einer Armbinde durch alle Luftschutzkeller und suchten nach wehrfähigen Männern. Egal ob alt oder jung, sie mussten alle zum Volkssturm, und meist hat man nie wieder etwas von ihnen gehört. Wir Kinder wussten nicht, wo der Conrad versteckt war, denn wenn wir das rausgeplappert hätten, wäre er wahrscheinlich wer weiß wohin gekommen. In den letzten Kriegstagen hatte ihn seine Mutter mit zu uns in die Krypta genommen und dort in einer Ecke versteckt. Vorm Volkssturm hat sie ihn bewahrt, und in der Krypta ist er umgekommen – mit seiner Mutter zusammen. So wie meine Mutter und meine Geschwister …

      »Die Bomben, die euch treffen, die hört ihr nicht.«

      Waldemar Klemm

      (Geboren 1936 in Berlin, Sozialarbeiter)

      Dann kam der Krieg. Unser Haus wurde zerstört. Wir überlebten im Keller, unsere Nachbarn nicht, von denen kam keiner aus dem Keller wieder raus. Wir wurden mit einem Programm für obdachlos gewordene Familien außerhalb der Stadt in eine Villa umgesiedelt. Dann fiel da die Bombe. Dann war da die Hälfte tot und wir überlebten wieder.

      Meine früheste Kindheitserinnerung: Nachdem unser Haus in Berlin zerstört worden ist, kommen wir aus dem Keller raus. Wir laufen mitten auf der Straße, weil links und rechts die Häuser brennen. Sie brechen in sich zusammen. Auf dem Bürgersteig ist es unmöglich zu laufen. Es ist nachts und hell erleuchtet, weil alles brennt. Das sind Eindrücke, die bleiben einem. Da war ich sechs. Wir waren im Keller verschüttet, die Männer mussten uns erst freigraben. Auf der Straße lag noch eine Puppe aus unserer Wohnung. Die Wohnung war nicht mehr da. Die Puppe nahmen wir mit.

      Für unsere Mutter muss es fürchterlich gewesen sein. Sie musste uns immer aus dem Tiefschlaf reißen und uns in den Keller schleppen. Dort hörten wir das Pfeifen der Bomben und das fürchterliche Beben vom ganzen Haus. Die Erwachsenen erklärten uns, das sei gar nicht so schlimm: »Wenn ihr den Schall hört, dann ist es schon erledigt, dann wurden wir nicht getroffen. Die Bomben, die euch treffen, die hört ihr nicht.« Das verstand ich nicht, aber es war ein Trost. Zuerst hörten wir ein fürchterliches Pfeifen, und gleich danach rumste es dann. Im Keller waren die Leute ängstlich, aber ruhig. Zwischendurch Rufe: »Oh Gott, jetzt schon wieder!«

      »Nein, die hat uns nicht getroffen!«

      »Wo mag die Bombe runtergekommen sein?«

      Sie glaubten, auch das Pfeifen unterscheiden zu können.

      »Das war eine Sprengbombe und das war eine Mine.« Die Minen waren schlimmer als die Sprengbomben. Die Phosphorbomben brannten tagelang in unserer Straße. Die Feuerwehr hatte gespritzt, fuhr weg und es brannte weiter. Phosphor lässt sich nicht mit Wasser löschen.

      Bei der zweiten Ausbombung lag der Bombentrichter fünfzig Meter von unserem Haus entfernt. Die Bombe hatte unser Haus nicht getroffen, sonst wären wir nicht mehr da. Es war schlimm. Es ist ein dumpfes Geräusch, das auf die Ohren geht, wenn ein Haus in sich zusammenfällt. Wir mussten uns freibuddeln. Das sind schon ganz üble Erinnerungen … Ein Mann, der mit uns im Haus gewohnt hatte, sagte die ganze Zeit: »Wo geht es denn lang, ich kann ja nichts sehen.« Ich sagte: »Guck mal, da geht es lang.«

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       Flüchtende Frauen und Kinder in einer umkämpften Straße in Danzig (März 1945)

      Bei Tageslicht konnte er immer noch nichts sehen. Er war erblindet, hatte Splitter ins Auge gekriegt. Mein Bruder hatte Glassplitter ins Gesicht bekommen. Noch zehn Jahre später kamen sie an der Stirn oder neben dem Auge raus.

      »Alles


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