Sturm und Drang. Christoph Jürgensen

Sturm und Drang - Christoph Jürgensen


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gerichtet. So erinnert sich Goethe in Dichtung und Wahrheit: „Ohne die äußeren Formen, welche auf Akademien so viel Unheil anrichten, stellten wir eine durch Umstände und guten Willen geschlossene Gesellschaft vor, die wohl mancher Andere zufällig berühren, aber sich nicht in dieselbe eindrängen konnte.“ (HA, Bd. 9, S. 373) Und aufgrund einer ‚natürlichen‘ Autorität, schildert Jung-Stilling in seiner Lebensgeschichte später seine Eindrücke von der Gruppenordnung, rückte Goethe schnell zur führenden Figur dieser geschlossenen Gesellschaft auf, hatte „die Regierung am Tisch“, „ohne daß er sie suchte“.

      Am 5. September 1770 kommt dann allerdings eine noch größere Autorität nach Straßburg, die sich im Gegensatz zu Goethe und seinen Tischgenossen schon einige literarische Meriten erworben hat: Johann Gottfried Herder. Das Zusammentreffen zwischen Herder und Goethe ist immer wieder als ‚Geburtsstunde‘ des Sturm und Drang bezeichnet worden: Zwar wird das role model Herder nicht Mitglied der Tischgesellschaft, nimmt aber Kontakt zu deren Mitgliedern und vor allem zu Goethe auf, der ihn häufig besucht. Goethe selbst hat die Begegnung mit Herder als „das bedeutendste Ereignis, was die wichtigsten Folgen für mich haben sollte“ eingeordnet: In ihren Gesprächen wird der angehende Autor Goethe von dem älteren Herder viel kritisiert, gelegentlich durchaus sarkastisch, erhält aber auch Bestätigung für viele seiner ästhetischen Ansichten sowie durch den Hinweis auf die Volkspoesie und das Vorbild Shakespeare wesentliche Anregungen für sein Literaturverständnis. Diese erste Phase des Sturm und Drang im engeren Sinne dauert nur ein halbes Jahr, weil Herder schon im April 1771 wieder abreist. Sie wirkt aber als ästhetischer Impuls fort, sowohl in der Bewegung im Allgemeinen als auch in gemeinsamen Veröffentlichungen wie dem Aufsatzband Von deutscher Art und Kunst (1773) im Besonderen. Und diese Form der |15◄ ►16| Bündnispolitik ist durchaus wahrgenommen worden: So bemerkt beispielsweise Christian Heinrich Schmid (1746-1800) in Wielands Teutschem Merkur (1774): „Noch immer ertönen von allen Seiten die Klagen über die Secten, und Spaltungen, welche auf unserem Parnasse herrschten. “ – und stimmt dann in die Klagen ein, indem er der „Secte“ gut aufklärerisch ihre „Neuerungssucht“ vorwirft.

      Bevor dann auch Goethe im August 1771 nach der abgeschlossenen Promotion zum Lizentiaten der Rechte aus Straßburg abreist, um in Frankfurt als Anwalt zu arbeiten, ergibt sich noch eine weitere Bekanntschaft, die sich entscheidend auf die weitere Entwicklung des Sturm und Drang auswirken sollte. Im Mai 1771 kommt nämlich Lenz nach Straßburg, schafft die Aufnahme in den inner circle bei Salzmann, wird in den Publikationsorganen der Zeit bald als erster Freund und Nachahmer Goethes bezeichnet und orientiert sich tatsächlich so stark an ihm, dass Daniel Schubart Lenz’ Drama Der Hofmeister im Augustheft 1774 seiner Deutschen Chronik für ein Werk „unsers Shakespears, des unsterblichen Dr. Göthe“ hält.

      Im Gegensatz zu Goethe blieb Lenz mit kurzen Unterbrechungen bis 1776 in Straßburg und engagierte sich in der „Société de Philosophie et Belles-Lettres“ (die im Jahr 1775 auf sein Betreiben hin in „Deutsche Gesellschaft“ umbenannt wurde), um für sich und andere deutsche Autoren ein breit wahrgenommenes Forum zu etablieren. Der Erfolg dieser literaturpolitischen Aktivitäten blieb allerdings mäßig, wie Lenz in einem Brief an Goethe eingestehen muss. Überhaupt blieb Straßburg zwar auch nach der Abreise der beiden ‚Sektenführer‘ Herder und Goethe gelegentlicher Treffpunkt der jungen Autoren und somit bedeutungsvoll für ihr Gruppenbewusstsein, wie eine Inschrift auf dem Turm des Straßburger Münsters bezeugt, auf der sich neben der Jahreszahl ‚1776‘ die Namen von 21 Autoren der jungen Generation finden, unter ihnen die Brüder Stolberg, Goethe, Lenz, Wagner, Schlosser, Herder und Lavater. Aber die Musik spielte mittlerweile längst anderswo: in Frankfurt, Darmstadt und Gießen.

      Kooperation zwischen Frankfurt, Darmstadt und Gießen: Der legendäre Jahrgang 1772 der Frankfurter gelehrten Anzeigen

      Hatte Goethe in Straßburg noch die Rolle des ersten ‚Schülers‘ von Herder eingenommen, so bildete sich in Frankfurt ein literarischer Zirkel |16◄ ►17| mit dem Heimkehrer als unumstrittenem Mittelpunkt heraus. Über seinen Darmstädter Freund Johann Heinrich Merck stellte sich überdies der Kontakt dieses Zirkels zu einer Gruppe empfindsamer Literaturfreunde in Darmstadt her, aus dem eine der resonanzträchtigsten literaturpolitischen Aktivitäten des Sturm und Drang resultierte: die Neugründung der Frankfurter gelehrten Anzeigen. Für ein Jahr, einen legendären ‚Jahrgang 1772‘ war dieses Publikationsorgan die literaturkritische Plattform, auf der sich die jungen Autoren präsentierten, d.h. ihr Programm artikulierten und Stellung bezogen gegen die Vertreter der Aufklärung, deren ästhetische Maßstäbe und deren Rezensionspraxis.

      Herausgegeben von Merck und Johann Georg Schlosser, erschienen die Frankfurter gelehrten Anzeigen zweimal wöchentlich und publizierten im Jahr 1772 104 Artikel, 396 Rezensionen und 36 Nachrichten „eher persönlicher Art“ (Gerhard Sauder). Die Beiträger rekrutieren sich aus dem Darmstädter Kreis um Merck und Herder (dessen Verlobte und spätere Frau Caroline Flachsland zu den Darmstädter ‚Empfindsamen‘ gehörte), dem Frankfurter Kreis um Goethe und einem Gießener Kreis um Karl Friedrich Bahrdt (1741 – 1792), ergänzt um einige ‚auswärtige‘ unregelmäßige Mitarbeiter. Insgesamt sind ca. 40 Rezensenten beteiligt, wobei die meisten Beiträge von Goethe, Merck, Schlosser, Petersen und Herder verfasst wurden. Nicht in allen Fällen ist die Verfasserschaft allerdings eindeutig zu klären, weil die Werke gelegentlich zunächst von einem der Bündnispartner referiert und dann diskutiert wurden, bevor einem Protokollführer die Aufgabe zufiel, eine „Protokoll-Rezension“ anzufertigen.

      Klar vernehmlich spricht sich der Gruppencharakter der Zeitschrift und ihre Opposition gegen das Interessenkartell der Aufklärung gleich in ihrer Ankündigung durch den Verleger aus:

      Eine Gesellschaft Männer, die ohne alle Autorfesseln und Waffenträgerverbindungen im stillen bisher dem Zustand der Litteratur und des Geschmacks hiesiger Gegenden, als Beobachter zugesehen haben, vereinigen sich, um dafür zu sorgen, dass das Publikum von hieraus nicht mit unrichtigen, oder nachgesagten, oder von den Autorn selbst entworffenen Urtheilen getäuscht werde. (Zit. nach Frankfurter gelehrte Anzeigen, Neudruck Heilbronn 1883, S. XXXI).

      Die erste Nummer der Zeitschrift vom 3. Januar 1772 wird dann von einer programmatisch zu verstehenden „Nachricht an das Publikum“ eingeleitet: Erfasst werden sollten „nur die gemeinnützigen Artikel in der Theologie, Jurisprudenz und Medizin“, das „Feld der Philosophie, der Geschichte, der schönen Wissenschaften und Künste“ hingegen „in seinem ganzen Umfange“. Außerdem sollte dafür gesorgt werden, dass dem |17◄ ►18| „Liebhaber der englischen Literatur [ …] kein einziger Artikel, der seiner Aufmerksamkeit würdig ist, entgehe“ (S. 3). Auf den ersten Blick mutet diese ‚Nachricht‘ nicht gerade ‚literatur-revolutionär‘ an, wie ein spektakulärer Neuanfang nach dem Bruch mit der Praxis aufklärerischer Literaturkritik. Neu war immerhin der Verzicht darauf, alle Neuerscheinungen besprechen zu wollen, wie es Anspruch des renommiertesten Konkurrenzunternehmens, des von Friedrich Nicolai herausgegebenen Rezensionsorgans Allgemeine deutsche Bibliothek war. Neu war auch die Bevorzugung englischer Literatur, die gegen den französischen Klassizismus ausgespielt wurde. Neu aber – bzw. neu in Gewichtung und Interpretation – waren vor allem die ästhetischen Hochwertbegriffe, die die Anzeigen zunehmend stärker exponierten: Genie, Gefühl und Natur. Gefeiert wurden etwa der „Blitzstrahl des Genies“ (S. 49) bei Klopstock oder Shakespeares Werke dafür, „fliegende Blätter aus dem großen Buche der Natur, Chroniken und Annalen des menschlichen Herzens“ (S. 144) zu sein. Und über den Einzelfall hinaus galt prinzipiell das poetologische Credo: „Die Dichtkunst und alle schönen Künste strömen aus den Empfindungen, sind nur den Empfindungen gewidmet und sollten nur durch sie beurteilt werden“, womit die Individualität zur zentralen Kategorie der Produktion und Rezeption des ‚Kunstschönen‘ aufgewertet war.

      Und neu war schließlich der Stil, in dem diese Hochwertbegriffe in Szene gesetzt wurden: Denn während noch die 1760er Jahre von einer Form der Literaturkritik dominiert wurden, die vornehmlich über die Einhaltung der Regeln wachte und dem subjektiven Geschmack keinen Platz einräumte, urteilten die Autoren der Frankfurter gelehrten Anzeigen ihrer Poetologie entsprechend betont persönlich – und keineswegs immer zurückhaltend, sondern oftmals äußerst polemisch. Ein bezeichnendes Beispiel für den provokativen Gestus der


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