Religion und Religionskritik. Michael Weinrich
die entscheidende Autorität von der Schrift. Es wird bezweifelt, ob diese Fähigkeit der Kirche mit den zu diesem Zwecke angeführten Stellen bewiesen werden kann; aber die Kirche selbst (der betroffene Teil) behauptet es! Ei, sind denn nicht diese ewigen Rundläufe ganz ausgezeichnete Erfindungen, gedankenlose und schwachköpfige Leute schwindelig und verwirrt zu machen?
Aber wenn wir glauben, die Schrift ist göttlich, nicht auf ihre bloße Zusicherung hin, sondern auf ein wirkliches Zeugnis, das in der offenkundigen Gewissheit der darin enthaltenen Dinge besteht, – in unbezweifelten Tatsachen und nicht in Worten und Buchstaben, – was ist das anderes, als es vermöge der Vernunft beweisen? Sie trägt in sich selbst durchaus den Charakter der Göttlichkeit, das gestehe ich zu. Aber die Vernunft ist es, die ihn ausfindig macht, ihn prüft und mit ihren Prinzipien beweist und für hinreichend erklärt; und dieses erzeugt in uns regelrecht die Zustimmung des Glaubens oder die Überzeugung. Wenn nun alle einzelnen Punkte scharf gesondert werden, wenn nicht nur die Lehren Christi und seiner Apostel betrachtet werden, sondern auch ihr Leben, ihre Weissagungen, ihre Wunder und ihr Tod, so würde sicher alle diese Mühe vergeblich sein, wenn wir bei einem einzigen Berichte Vernunftwidriges zuließen. (80 f.)
Gegen alles das, was wir in diesem Abschnitt festgestellt haben, wird man sich mit großem Pomp auf die Autorität der Offenbarung berufen – ohne das Recht, die Vernunft zum Schweigen zu bringen und nichtig zu machen, – als ob alles insgesamt nutzlos und unstatthaft wäre. ... Ich sage, die Offenbarung wäre nicht ein zwingendes Motiv der Zustimmung, sondern ein Mittel zur Kenntnis. Wir dürfen nicht den Weg, auf dem wir zur Kenntnis eines Dinges kommen, mit den Gründen verwechseln, die wir haben, daran zu glauben. Es kann mich jemand in tausend Dingen unterrichten, die ich nie zuvor gehört habe, und über die ich nicht soviel denken würde, wenn mir nicht davon berichtet wäre; dennoch glaube ich nichts auf sein bloßes Wort hin ohne offenbare Gewißheit in den Dingen selbst. Nicht die bloße Autorität|39◄ ►40| dessen, der spricht, sondern die klare Vorstellung, die ich mir über das bilde, was er sagt, ist der Grund meiner Überzeugung. (83)
Mit seiner konsequent kritischen Haltung berief sich Toland auf das Neue Testament als die für den christlichen Glauben maßgebliche Quelle. Dieses stellt er gegen die Kirchengeschichte, welche aus sehr unterschiedlichen Interessen heraus die Mysterien insbesondere in der Gestalt von Zeremonien in die Kirche eingeführt und in ihr verbindlich gemacht habe. Schon beginnend im zweiten Jahrhundert wurde die Taufe angereichert durch Salbung und Kreuzeszeichen, Fragen und Antworten, Fasten und Waschungen, wobei man keine Scheu hatte, sich beim heidnischen Aberglauben zu bedienen:
In späteren Zeiten aber fand man kein Ende mit all den Kerzen, Geisterbeschwörungen, Anblasungen und vielen anderen Absonderlichkeiten jüdischen und heidnischen Musters. Aus dieser Quelle entsprang nicht nur der Glaube an Ahnungen, Vorzeichen, Erscheinungen, die Sitte des Beerdigens mit drei Schaufeln voll Erde und andere vulgäre christliche Riten, sondern auch Kerzen, Feste oder heilige Tage, Einsegnungen, Bilder, die Sitte in der Richtung nach Osten hin zu beten, Altäre, Musik, Kirchweihen, Sonderung der Plätze für sogenannte Laien und Kleriker. Denn in den Schriften der Apostel gibt es nichts dergleichen, wohl aber ist all das deutlich enthalten in den Büchern der Heiden und gehörte zu ihrem Gottesdienst.
. . . Aber es steht nichts von Natur so im Gegensatz wie Zeremonie und Christentum. Das letztere enthüllt die Religion klar und offen vor aller Welt, und die erstere liefert sie mystischen Darstellungen von rein willkürlicher Bedeutung aus. (135 – 137)
Es ist deutlich, dass für Toland die Berufung auf die Religion – verstanden als natürliche Religion – das kritische Potential zur Abweisung von Dogmatismus und Konfessionalismus der Kirchen darstellt. Religion überschreitet in diesem Gebrauch zwar nicht grundsätzlich die Grenzen des Christentums, sondern wird emphatisch mit ihm identifiziert, bezeichnet aber einen Zugang, der im Grundsatz auf Allgemeingültigkeit zielt und somit die Bindung an das Christentum immer auch transzendiert.
D. Lucci, Scripture in John Toland’s Criticism of Revealed Religion, in: ders., Scripture and Deism. The Biblical Criticism of the Eighteenth-Century British Deists, Bern 2008, 65 – 133
6. Voltaire
Mit Voltaire (1694 – 1778) erreicht die europäische Aufklärung ihren Höhepunkt. Trotz seiner rückhaltlosen Kritik an den abergläubischen Lehren der verfassten Religionen hält er doch unbedingt an der praktischen Bedeutung des Gottesglaubens fest.
Auch wenn Voltaire im Grunde keine neuen Argumente vorträgt, erreichen seine Kompilationen eine Schärfe und Aggressivität, die sich vor allem aus der vorrevolutionären Situation in Frankreich erklären lassen. Gleichwohl hat er durch seine Popularisierungen nicht unwesentlich zur weltweiten Ausbreitung der Ressentiments|40◄ ►41| gegenüber dem traditionellen Kirchenglauben beigetragen. Seine Kritik ist zugespitzt als Herrschaftskritik gegen die Kirchen, die er unverblümt für den Atheismus verantwortlich macht:
Wenn es Atheisten gibt, ist niemand anders daran schuld als die gedungenen Zwingherrn der Seelen, die uns gegen ihre Schurkereien aufbringen und manche schwachen Geister dazu zwingen, den Gott zu leugnen, den diese Ungeheuer schänden.46
Schon das kurze Zitat verdeutlich, dass sich Voltaire auch angesichts seiner radikalen Kritik nicht zu den Atheisten rechnet, sondern diese eher als ‚schwache Geister‘ betrachtet. Vielmehr bleibt er in der Linie des Deismus und bezeichnet sich selbst als einen Vertreter der ‚natürlichen Religion‘:
Zum Schluß stelle ich fest, daß jeder vernünftige, jeder anständige Mensch die christliche Sekte verabscheuen muß. Der große Name Theist, der nicht genügend verehrt wird, ist der einzige, den man annehmen sollte. Das einzige Evangelium, das man lesen sollte, ist das große Buch der Natur, das Gott mit seiner eigenen Hand schrieb und dem er sein Siegel aufdrückte. Die einzige Religion, zu der man sich bekennen sollte, ist die, Gott zu verehren und ein anständiger Mensch zu sein. Es ist dieser reinen und ewigen Religion ebenso unmöglich, Böses zu vollbringen, wie es dem christlichen Fanatismus unmöglich war, das Böse nicht zu tun. In dieser natürlichen Religion wird man nicht sagen können: Ich bin nicht gekommen, euch den Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Das aber ist das erste Glaubensbekenntnis, das man dem Juden in den Mund legt, den man Christus genannt hat.47
Zugleich kann Voltaire Jesus als einen Theisten bezeichnen, der allerdings zu einem Opfer seiner Umstände und seiner späteren Dogmatisierungen geworden ist:
Weder Jesus noch irgendeiner seiner Apostel hat je gesagt, er habe zwei Naturen und eine Person mit zwei Willen, seine Mutter sei die Mutter Gottes, sein Geist sei die dritte Person Gottes, und dieser Geist sei vom Vater und vom Sohne erzeugt. Wenn sich auch nur einer dieser Glaubenssätze in den vier Evangelien findet, so möge man ihn uns zeigen: Man streife alles von Jesu ab, was ihm fremd ist, was ihm zu verschiedenen Zeiten während der schändlichsten Glaubensstreitigkeiten und auf den sich voller Ingrimm wechselseitig mit Bannfluch belegenden Konzilien zugeschrieben worden ist; was bleibt dann von ihm übrig? Ein Vertreter von Gott, der die Tugend gepredigt hat, ein Feind der Pharisäer, ein Gerechter, ein Theist. Wir wagen zu behaupten, wir seien die einzigen, die seines Glaubens sind, der das Universum aller Zeit umfaßt und folglich der einzige wahrhafte Glaube ist. (485)
Es geht Voltaire darum, die Religion, die sich zu Recht so nennen darf und deshalb auch zu schützen ist, konsequent von dem Aberglauben zu trennen:
Die Religion, sagt ihr, sei für eine Unmenge Missetaten verantwortlich; sagt lieber, es sei der Aberglaube, der auf unserer trüben Erde herrscht: Er ist der schlimmste Feind der reinen Verehrung, die wir dem höchsten Wesen schuldig sind. Verabscheut dieses Monstrum, das immer |41◄ ►42| wieder den Schoß seiner Mutter zerrissen hat. Wer es bekämpft, ist ein Wohltäter des Menschengeschlechts. Wie eine Schlange erstickt es die Religion mit seinen Windungen. Man muß ihr den Kopf zertreten, ohne die Religion, die von ihr vergiftet und zerfleischt wird, zu verletzen.48
Es ist deutlich, dass das aufklärerische Pathos selbst einen eigenen Exklusivismus mit