Religion und Religionskritik. Michael Weinrich

Religion und Religionskritik - Michael Weinrich


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erwartet wird, ist das System der Abgötterei und des Götzendienstes, welches so alt, als das menschliche Verderben, und mit dem Fortgange der Zeit bloss seine äußere Gestalt verändert hat. Sey dies übermächtige Wesen ein Knochen, eine Vogelfeder, oder sey es ein allmächtiger, allgegenwärtiger, allkluger Schöpfer Himmels und der Erde; – wenn von ihm Glückseligkeit erwartet wird, so ist es ein Götze. ...

      ... Mir ist Gott ein von aller Sinnlichkeit und allem sinnlichen Zusatze gänzlich befreites Wesen, welchem ich daher nicht einmal den mir allein möglichen sinnlichen Begriff der Existenz zuschreiben kann. Mir ist Gott bloss und lediglich Regent der übersinnlichen Welt. Ihren Gott läugne ich und warne vor ihm, als vor einer Ausgeburt des menschlichen Verderbens, und werde dadurch keineswegs zum Gottesläugner, sondern zum Vertheidiger der Religion. Meinen Gott kennen sie nicht und vermögen sich nicht zu dessen Begriffe zu erheben. Er ist für sie gar nicht da, sie können ihn sonach auch nicht läugnen, und sind in dieser Rücksicht nicht Atheisten. Aber sie sind ohne Gott; und sind in dieser Rücksicht Atheisten. – Aber es ist fern von meinem Herzen, sie auf eine gehässige Weise mit dieser Benennung zu bezeichnen. Meine Religion lehrt mich vielmehr, sie zu bedauern, dass sie das höchste und edelste gegen das geringsfügigste aufgeben. Diese Religion lehrt mich hoffen, dass sie über kurz oder lang ihren bejammernswürdigen Zustand entdecken, und alle Tage ihres Leben für verloren betrachten werden, gegen das ganz neue und herrliche Daseyn, welches ihnen dann aufgehen wird. (219 f.)

      Fichte unterscheidet im Blick auf das Christentum sein wahres Wesen, das identisch ist mit der von ihm vertretenen wahren Religion, und seiner historischen Erscheinung, den ‚Christianismus‘, zu dem er alles Dogmatische und Konfessionelle zählt. Es ist deutlich, dass er dabei an Kant anknüpft, dann aber in der Konzentration auf das absolute Selbstbewusstsein und die Freiheit seinen eigenen Weg beschreitet.

      Chr. Asmuth, Das Begreifen des Unbegreiflichen. Philosophie und Religion bei J. G. Fichte, Stuttgart 1999

      W. G. Jacobs, Johann Gottlieb Fichte, Reinbek 31998

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      10.2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel

      In seiner Geistphilosophie beerbt Georg W. F. Hegel (1770 – 1831 ) die Theologie, die er an ihr Ende gekommen sieht, indem er die Wahrheit des Christentums als die absolute Religion auf ihren Begriff bringt.

      In der integralen Geistphilosophie Hegels hat der Idealismus zu seiner am vollkommensten ausgeprägten Gestalt gefunden. Zugleich war es gerade diese spekulative Geistphilosophie, von der sich dann die Religionskritik im 19. Jahrhundert (Ludwig Feuerbach [→ § 4,2.4], Max Stirner [→ § 4,2.5], Karl Marx [→ § 4,3.3] u. a.) entschlossen abgekehrt hat. Es ist in gewisser Weise die Selbstüberschreitung der Aufklärung durch ihre eigene Apotheose, die Hegel mit seiner spekulativen Systematik ebenso eindruckvoll wie letztlich auch befremdend vor Augen stellt und damit einen Gipfel erklimmt, der bisher durchaus achtsam vor jeder Inbesitznahme geschützt worden ist. Es kann nur wenig verwundern, wenn der mit Hegel erreichte Höhepunkt auch einen Schlusspunkt in einer Entwicklung darstellt, der keine weiteren Entwicklungsperspektiven mehr eingeräumt werden können. In dem Moment, wo Zweifel an den Konstruktionsprinzipien dieses Wirklichkeitskonzepts Platz greifen, führt dies nicht zu Korrekturen, sondern es steht sofort das ganze Konzept in Frage. Es ist, wenn man so will, bei aller Systematik eben auch eine bekennende Philosophie, die ohne ihr tragendes Bekenntnis zum Geist in sich zusammenfällt.

      In seinen Frühschriften finden sich religionskritische Äußerungen im Sinne der französischen Revolution (insbesondere J.-J. Rousseau [→ § 2,7]) und dem Geist von Lessing (→ § 2,8) und Kant (→ § 2,9).64 Hervorzuheben wäre die Abhandlung „Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als kantische, jacobische und fichtische Philosophie“ (1802) mit der die gegenwärtige Glaubenssituation charakterisierenden berühmten, allerdings meist unangemessen interpretierten Formulierung „Gott selbst ist tot“.65 Hegels Überlegungen zur kritischen Grundlegung der Religionsphilosophie finden sich in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion (1821 – 1831) und in den Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821).

      Das Christentum als die ‚absolute Religion‘ soll mit Hilfe der Philosophie von den Glaubensmysterien in eine vollkommene Gestalt einer reinen Geist-Religion überführt werden, in der sie von der überzeugten Vernunft einen verlässlichen Schutz in Anspruch nehmen kann. Religion wird dabei als das durch den endlichen Geist vermittelte Selbstbewusstsein des absoluten Geistes verstanden. Es ist keine andere Wahrheit in der Religion bestimmend, sondern es ist ein anderes Verhältnis zur Wahrheit, das die Religion von der Philosophie unterscheidet. Wie die Religion durch das Gefühl bestimmt wird, so rechtfertigt die Philosophie dieses Gefühl in denkendem Bewusstsein.

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      Der Philosophie ist der Vorwurf gemacht worden, sie stelle sich über die Religion: dies ist aber schon dem Faktum nach falsch, denn sie hat nur diesen und keinen anderen Inhalt [sc. Die Wahrheit], aber sie gibt ihn in der Form des Denkens; sie stellt sich so nur über die Form des Glaubens, der Inhalt ist derselbe.

      Die Form des Subjekts als fühlenden Einzelnen usf. geht das Subjekt als einzelnes an; aber das Gefühl als solches ist nicht von der Philosophie ausgestoßen. Es ist die Frage nur, ob der Inhalt des Gefühls die Wahrheit sei, sich im Denken als der wahrhafte erweisen kann. Die Philosophie denkt, was das Subjekt als solches fühlt, und überläßt es demselben, sich mit seinem Gefühl darüber abzufinden. Das Gefühl ist so nicht durch die Philosophie verworfen, sondern es wird ihm durch dieselbe nur der wahrhafte Inhalt gegeben.

      Aber insofern das Denken anfängt, sich in Gegensatz zu setzen gegen das Konkrete, so ist der Prozeß des Denkens, diesen Gegensatz durchzumachen, bis er zur Versöhnung kommt. Diese Versöhnung ist die Philosophie: die Philosophie ist insofern Theologie; sie stellt dar die Versöhnung Gottes mit sich selbst und mit der Natur, daß die Natur, das Anderssein an sich göttlich ist und daß der endliche Geist teils an ihm selbst dies ist, sich zur Versöhnung zu erheben, teils in der Weltgeschichte zu dieser Versöhnung kommt.66

      Hegel ist mit dem Anspruch aufgetreten, mit seiner Religionsphilosophie der rechtmäßige Erbe der Theologie zu sein, die definitiv an ihr Ende gekommen sei. Die Theologie sei nicht einmal mehr über ihre eigene Tradition wirklich auskunftsfähig oder ergehe sich in Historisierungen, sodass die von ihr zu vertretende Wahrheit unbedacht brachliegen würde, wenn sie nicht von der Philosophie aufgegriffen und auf ihren Begriff hin reflektiert würde. Die neuere Theologie habe den größten Teil der überkommenen christlichen Lehre zugunsten einer „beinahe universelle[n] Gleichgültigkeit“67 aufgegeben. Das deutlichste Zeichen für die Verlegenheit der Theologie zeige sich in der dominierenden Neigung, den Lehrbestand der Tradition zu historisieren.

      Das größte Zeichen aber, daß die Wichtigkeit dieser Dogmen gesunken ist, gibt sich uns darin zu erkennen, daß sie vornehmlich historisch behandelt und in das Verhältnis gestellt werden, daß es die Überzeugungen seien, die anderen angehören, daß es Geschichten sind, die nicht in unserem Geiste selbst vorgehen, nicht das Bedürfnis unseres Geistes in Anspruch nehmen....

      Die absolute Entstehungsweise aus der Tiefe des Geistes und so die Notwendigkeit, Wahrheit dieser Lehren, die sie auch für unseren Geist haben, ist bei der historischen Behandlung auf die Seite geschoben: sie ist mit vielem Eifer und Gelehrsamkeit mit diesen Lehren beschäftigt, aber nicht mit dem Inhalt, sondern mit der Äußerlichkeit der Streitigkeiten darüber und mit den Leidenschaften, die sich an diese äußerliche Entstehungsweise angeknüpft haben. Da ist die Theologie durch sich selbst niedrig genug gestellt. Wird das Erkennen der Religion nur historisch gefaßt, so müssen wir die Theologen, die es bis zu dieser Fassung gebracht haben, wie Kontorbediente eines Handelshauses ansehen, die nur über fremden Reichtum Buch und Rechnung führen, die nur für andere handeln, ohne eigenes Vermögen zu bekommen; sie erhalten zwar Salär; ihr Verdienst ist aber nur, zu dienen und zu registrieren, was das Vermögen |58◄ ►59| anderer ist. Solche Theologie befindet sich


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