Konstruktive Rhetorik in Seminar, Hörsaal und online. Jürg Häusermann
Raum und die Menschen, die darin versammelt sind, wahrzunehmen erfordert Zeit. Die rechtzeitige Auseinandersetzung mit dem Raum schafft nicht nur einen besseren Kontakt. Sie hilft auch auf einer rein technischen Ebene. Man wird sich dem Raum ja in der Redeweise anpassen müssen: in Stil, Lautstärke, Gestik und anderen Äußerungsformen. Zudem stellt jedes Rednerpult, jede Projektionsanlage eigene Anforderungen an das technische Geschick der Vortragenden.
Platz schaffen, Plätze zuweisen
Zur ersten Auseinandersetzung mit dem Raum gehört auch Orientierung. So muss abgeklärt werden, welcher Platz als Rednerposition vorgesehen ist und ob es dazu Alternativen gibt. Auch die Technik, die genutzt wird, und der Ort des dienstbaren Geistes, der sie eventuell bedient, müssen gefunden und ausprobiert werden.
Wer kann, begibt sich deshalb schon vor Beginn der Veranstaltung in den Saal, um diese Fragen zu klären. In vielen Fällen lässt sich da noch die eine oder andere Rahmenbedingung verändern: in kleineren Seminaren die Sitzordnung, in größeren Sälen die Position des Rednerpults. Wesentlich ist immer: Wer vor dem Publikum steht, hat im Prinzip viel mehr Raum zur Verfügung als diejenigen, die im Publikum sitzen. Und er ist für die gemeinsame Nutzung des Raums verantwortlich. Dies gilt für den Instruktor, der seinem Team die Benutzung einer neuen Maschine erklärt, ebenso wie für die Pressechefin, die eine Gruppe von Besuchern durch den Betrieb führt, oder die Referentin, der man einen Sitzungsraum zur Verfügung gestellt hat. Es gilt aber auch für die Lehrerin, die die Schulklasse zur selbständigen Arbeit anleitet, und für den Studenten, der die Resultate einer Gruppenarbeit präsentiert. Sie alle sind frei in der Wahl der Distanz zu den Angesprochenen und in ihrer Raumnutzung, z.B. durch Schritte und Körperdrehungen. In vielen Fällen ist es sogar möglich, mitten durch das Publikum hindurchzugehen. Dass z.B. ein Lehrer die Bankreihen abschreitet, ist eine traditionsreiche Geste, dass ein Referent vor den Zuhörenden auf und abgeht, wird ebenfalls akzeptiert. Alle diese Dinge muss man nicht tun (und einige können auch kontraproduktiv sein); aber zu wissen, dass man es tun könnte, ist ein guter Ausgangspunkt. Es betont die Freiheit der Gestaltung.
Vor dem Beginn der Veranstaltung:
»Suche den Raum auf und mache dich mit seiner technischen Einrichtung vertraut.
»Setze dich auf einen Zuschauerplatz, um ein Gefühl für den Eindruck zu bekommen, den man von dort aus vom Redner und dessen Umgebung hat.
»Wähle (wenn möglich) deinen späteren Standort. Gibt es mehrere Möglichkeiten? Solltest du deine Position während der Rede wechseln?
Sogar wenn keine Gelegenheit besteht, den Raum in Ruhe zu erkunden, kann man ein paar Sekunden dafür einsetzen. Man wird zum Beispiel unverhofft zu einer Sitzung gerufen und steht plötzlich vor den versammelten Abteilungsleitern – gefühlt zur falschen Zeit und ohne genügend Vorbereitung.
Hinzu kommt ein mentaler Effekt: Wer sich auf den Raum einlässt, stimmt sich auf die Öffentlichkeit ein, die hergestellt wird, auf die Weitung des Geltungsraums, die das Reden erst zum rhetorischen Akt macht. Ohne ein Bewusstsein für diese Veränderung wird, was man sagt und wie man es sagt, nicht zusammenpassen. Es ist ganz natürlich, dass dieses Bewusstsein für den Raum auch den körpersprachlichen Ausdruck beeinflusst.
»Wo sind die Geräte, die ich einsetzen werde?
»Wer hilft mir bei den technischen Abläufen? Wo befindet sich diese Person?
»Wo werde ich stehen? Kann ich meine Position verändern, um die Gliederung des Vortrags zu unterstreichen?
Die Haltung zeigt die Beziehung zum Raum
Wer vor Publikum reden will, muss den Raum einnehmen. Ob dies gelingt, zeigt die Körpersprache, und ein wichtiges Signal gibt dabei die Körperhaltung.
Zwei Skizzen illustrieren dies: Im linken Bild demonstriert die Rednerin Reserviertheit, Inaktivität. Mit der nach vorne gebeugten Haltung scheint sie in ihrem Anzug zu hängen. Die Füße, die eng beieinanderstehen, bieten keinen sicheren Halt. Auf dem Bild rechts hat sie durch einen sichereren Stand und das Heben der Arme bereits eine andere Präsenz. Sie atmet in die Körpermitte (s. Kapitel 7) und ist sich des gesamten Raums bewusst, in dem sie sich befindet. Sie signalisiert allen, die vor ihr sitzen, Interesse.
7 | Passive Haltung: Füße nahe beieinander, Oberkörper ohne Spannung.
8 | Aktive Haltung: Füße in etwa schulterbreitem Abstand, Oberkörper aufgerichtet.
Die Haltung ist nicht nur dazu da, Selbstvertrauen zu signalisieren. Sie hilft auch dabei, die Distanz zu überbrücken: Indem das Publikum einen Menschen sieht, der Präsenz ausstrahlt, konzentriert es sich besser und ist aufmerksamer trotz der Entfernung und der Ablenkungen durch Sitznachbarn und Nebengeräusche.
Kontakt aufnehmen, Kontakt halten
Natürlich hat man das Publikum längst wahrgenommen. Aber kurz vor dem Beginn der Rede braucht es ein paar Sekunden, in denen bewusst Kontakt mit aufgenommen wird – der Kontakt, der durch den Vortrag hindurch gehalten wird. Es ist notwendig, sich dafür die Extrazeit zu nehmen, für Blickkontakt, ohne dabei gleichzeitig einen sicheren Stand zu suchen, ohne noch mit der technischen Einrichtung zu kämpfen.
Dies ist die Chance, Kontakt anzuknüpfen, der während der ganzen Zeit nicht abbrechen wird.
Keine Angst vor Banalitäten: Wenn es im Raum plötzlich zu dunkel ist oder zu kalt oder zu stickig, wenn eine Unruhe entsteht, wenn nicht klar ist, ob alles bis in die hinterste Reihe zu verstehen ist, braucht dies den Kontakt mit dem Publikum nicht zu unterbrechen. Es kann angesprochen werden – ruhig und selbstverständlich. Für viele solche Dinge sind die Leute im Saal kompetenter und können helfen. Und das zu thematisieren, kann als Chance genutzt werden, das gemeinsame Interesse zu betonen – am besten natürlich dann, wenn sich das betreffende Problem auch gemeinsam lösen lässt.
»Nähere dich deiner Redeposition bewusst. Erkenne, wie sich dein Spielraum vergrößert.
»Nimm den Raum und dein Publikum aus der Position des Redners wahr.
Zeige durch deine Haltung, dass du den gesamten Raum einnimmst.
»Wechsle gelegentlich die Perspektive: Was sehen die anderen? Was können sie zum Vortrag beitragen, weil sie in eine andere Richtung blicken?
»Teile deine Raumwahrnehmung: Thematisiere Ungewöhnliches, das dich stört oder belustigt!
Lass dir helfen, wenn das Licht oder die Akustik verändert werden müssen!
»Verlasse deine Redeposition und akzeptiere, dass „dein“ Raum wieder kleiner wird und nicht mehr alle Blicke auf dir ruhen.
Ein Beispiel: Orientierung durch Raumnutzung
Der Physiker Harald Lesch nutzt den Raum zur Unterstützung seiner Didaktik. Zu Beginn seines Vortrags Wir irren uns empor.