Konstruktive Rhetorik in Seminar, Hörsaal und online. Jürg Häusermann
verpflichtet, zum perfekten Monolog. Das ist kein Wunder, denn die Idealbilder, die uns für das öffentliche Reden präsentiert werden, sind Bilder von Menschen, die sich vor einer Menschenmenge postiert haben und dieser eine brillante Performance bieten. Barack Obama, Winston Churchill, Helmut Schmidt, Hape Kerkeling, Charles de Gaulle, Martin Luther King: Redner (und es sind wirklich zum größten Teil Männer2), die einen geschliffenen Text sprechen können, den die Öffentlichkeit bewundernd abnickt und den man später in Sammelbänden abdruckt.
Solche Redner imitieren zu wollen, setzt unnötig hohe Hürden. Denn von Menschen, die einen Vortrag halten müssen, wird etwas anderes erwartet als von Schauspielerinnen oder politischen Führern. Sie müssen keine Rolle einstudieren und keine makellose Vorführung präsentieren. Sie müssen informieren. Sie haben etwas Eigenes mitzuteilen, und ihr Publikum ist an der Information interessierter als an der Form. Dafür taugt auch der populäre Volksredner von Cicero bis Obama nicht zum Vorbild, der einen ausgefeilten Text wiedergibt und den mit einer Erfahrung von Jahrzehnten des Redens und des Redetrainings zelebriert. Und es braucht nicht das Ideal der Rede, die angeblich mit der Macht des Wortes eine Menschenmenge zu manipulieren vermag.
Nein, dem nachzueifern, macht kaum Sinn, wenn man in einem normalen Beruf, im Studium oder in der Freizeit zu anderen reden soll. Wer bei einem Online-Seminar einen Vortrag hält, wer in der Kirche einen Bibelvers auslegt oder eine Gruppe von Kunden durch die Werkstatt führt, braucht nicht Tipps für den tadellosen Auftritt, sondern etwas viel Einfacheres: eine Anleitung dazu, mit den Menschen in den Dialog zu treten. Das bedeutet Gelassenheit statt Leistungsdruck, Persönlichkeit statt Perfektion, Verständigung statt Überredung.
Dieses Buch wendet sich an Menschen, die ihre Sache verständlich rüberbringen wollen – so, dass man ihnen motiviert zuhört und bereit ist, mitzudenken. Ausgangspunkt dafür ist die Schwelle, die offensichtlich da ist, die Schwelle vom ungezwungenen Reden im Alltag zum Reden vor Publikum.
Mit diesem Übergang vom nicht-öffentlichen zum öffentlichen Reden verändern sich die Rahmenbedingungen des Redens und es stellen sich besondere Anforderungen an das sprachliche, sprecherische und körpersprachliche Verhalten. Aber nur scheinbar ist es auch ein Übergang vom Dialog zum Monolog. Im Gegenteil: Das Ziel ist Verständigung, und diese gelingt am besten, wenn auch die öffentliche Rede möglichst viel Dialogisches enthält. Die Rednerin, der Redner, aber auch die Zuhörerinnen und Zuhörer profitieren davon. Wie auch im Alltag ist der Grundgedanke, dass das Ziel gemeinsam erreicht werden soll.
Das soll dieses Buch zeigen: dass Reden als Dialog aufgefasst und mit dialogischen Mitteln angegangen werden kann. Dies erleichtert nicht nur dem Redner oder der Rednerin die Aufgabe, sondern macht auch die Menschen im Publikum von passiven Empfängern der Botschaft zu Gesprächspartnern.
Voraussetzung ist, zu erkennen, wie sich nicht-öffentliches und öffentliches Reden unterscheiden und wie eine dialogische Haltung auch in die öffentliche Rede übernommen werden kann. Die Beispiele und Tipps beginnen beim Umgang mit dem Raum: mit der Überwindung der Distanz zum Publikum. Dies führt zu den Themen Körpersprache und Akustik. Darauf folgen die Kapitel, die zeigen, wie man die passenden Worte findet und mit klassischen und neuen Medien visualisiert.
Extras
Der Anhang enthält Vorschläge für die Gestaltung von Seminaren mit einer Reihe bewährter Übungen für das Reden vor Gruppen in Präsenz und online.
Dieses Buch ist entstanden, als die Corona-Pandemie viele von uns zwang, Präsenzveranstaltungen ins Netz zu übertragen. Es fußt auf Erfahrungen der Online-Rhetorik, wie sie sich mit den sozialen Medien und den Werkzeugen der digitalen Lehre entwickelt hat. Es nimmt aber auch – in überarbeiteter Form – Grundgedanken und bewährte Inhalte aus dem Buch Konstruktive Rhetorik von 2019 auf.
Die Regeln und Tipps richten sich an alle, die in irgendeiner Form mündlich informieren müssen, und natürlich auch an Lehrende, die das Halten von Vorträgen als Schlüsselkompetenz vermitteln. An sie wenden sich besonders auch die praxiserprobten Seminar- und Übungsvorschläge. Allen aber wünsche ich, dass ihnen die dialogische Ausrichtung des Buchs eine Hilfe ist und dass sie beim Lehren und Lernen auch den spielerischen Aspekt des Redetrainings entdecken.
1Reden vor Publikum: Was wird anders?
Luisa Neubauer, die Geografie-Studentin und Klimaschutz-Aktivistin, steht auf der Bühne. Am Rand des Berliner Invalidenparks spricht sie zu mehreren tausend Menschen, die sich zum internationalen Klimastreik versammelt haben. Sie steht aufrecht, während sie sagt: „Wir sind vernetzter als je zuvor, wir sind globaler als je zuvor, wir werden den Leuten so lange auf die Nerven gehen, bis sie begreifen, dass sie an der Reihe sind, was zu tun.“ Es sind klare, plakative Sätze, und einige davon hämmert sie den Zuhörenden richtiggehend ein: „Wir sind die Generation, die das schaffen kann!“ Jede der unterstrichenen Silben betont sie und dazu schlägt sie mit beiden Armen den Takt. „Wir sind diejenigen, die das schaffen müssen, und wir werden das schaffen.“3
1 | Die Rednerin auf der Bühne.
Die einprägsamen Formulierungen, die starken Betonungen, die rhythmischen Armbewegungen: das ist die „öffentliche“ Luisa. Sie formuliert mit fester Stimme klare Botschaften in kurzen, vollständigen Sätzen.
Eine Fernseh-Doku zeigt sie aber auch im Gespräch mit ihren Freunden. Man sieht sie bei der Planung einer Aktion, beim Diskutieren persönlicher Probleme oder beim Entspannen nach einem anstrengenden Tag. Da ist keine Bühne mehr; sie stehen nahe beieinander. Luisas Stimme klingt mal kräftiger, mal zurückhaltend. Sie braucht nicht immer vollständige Sätze zu machen und lässt sich auch unterbrechen oder fragt nach. Dazu steht, sitzt oder liegt sie, geht durch den Raum. Manchmal schaut sie aufs Handy, gelegentlich führt sie ihre Hände zum Mund oder stützt ihr Kinn auf, um nur zuzuhören.
2 | Gespräch unter Freunden: geringe Distanz.
Das sind zwei Bilder von ein und derselben jungen Frau, einmal bei der öffentlichen Rede vor Publikum und einmal im Gespräch mit Vertrauten. Ansprache im Kontrast zu Zwiesprache. Sie illustrieren die drastischen Unterschiede, die sich da ergeben können. Auch wenn das Ziel nicht in einer Kampfrede besteht, ist es dennoch wichtig zu wissen, unter welchen Bedingungen sich die öffentliche Rede entwickelt hat. Es hilft, zu erkennen, wie man mit diesen Vorgaben umgehen kann. Die nächsten Kapitel zeigen die wesentlichen Aspekte auf. Einige davon müssen respektiert werden, andere lassen sich durchaus ignorieren. Alle werden einfacher, wenn man sie mit einer dialogischen Haltung angeht.
Im Überblick sind dies die wichtigsten Merkmale öffentlicher Kommunikation:
»Drei Rollen: Die Beteiligten übernehmen unterschiedliche Aufgaben:
»eine Person trägt vor
»eine Gruppe hört zu
»ein Veranstalter schafft den Rahmen
»Mehr Raum: RednerIn und Publikum sitzen oder stehen einander in einer gewissen Entfernung gegenüber (Präsenzvortrag) – oder sie befinden sich in unterschiedlichen Räumen und sind durch ein elektronisches Medium verbunden (Online-Vortrag).
»Zeitliche Begrenzung: Wie lang eine Rede sein soll, ist von vornherein abgesprochen oder ergibt sich aus der Erfahrung.
»Einflüsse von Kultur und Gesellschaft: Für jeden Typ Rede gibt es Vorgaben, die von der Wahl des Ortes bis zur Kleidung gehen können.
»Redeziele und Redehandlungen: Eine Rede ist mit einem klaren Zweck verbunden, dem eine sprachliche Handlung zugeordnet werden kann.
»Planung: Jeder Rede geht eine längere oder kürzere inhaltliche und sprachliche Planung voraus.
»Sprache, Sprechen und Körpersprache ergeben sich als Produkt dieser Rahmenbedingungen.