Erzählstrukturen im Neuen Testament. Florian Wilk
Unebenheiten begegnen zumal in der zweiten Texthälfte. Schon dass der Vater den jüngeren Sohn laut Lk 15,20b »von ferne kommen« sah, »als hätte er immer auf ihn gewartet«[110], sprengt den Rahmen des Erwartbaren. Ein wirklicher Bruch liegt zwischen V. 21 und V. 22 vor: Statt dem Heimkehrer auf sein Bekenntnis zu antworten, wendete sich der Vater sogleich an seine Diener; dabei wird überdies ihre Präsenz beim Vater oder dessen Rückkehr zum Haus vorausgesetzt. Auch der Übergang von V. 24 zu V. 25 erscheint unlogisch: Dass der Vater das Fest für den jüngeren Sohn beginnen ließ, ohne den älteren dazuzuholen, sodass dieser bei der Rückkehr vom Feld erst einen Burschen befragen musste, wieso im Haus gefeiert werde (15,25f.), ist kaum nachvollziehbar. Holperig wirkt ferner der Anschluss von V. 28b an V. 28a, da offen bleibt, wie der Vater erfuhr, dass der ältere Sohn »nicht hineingehen wollte«. All diese Unebenheiten[111] erweisen den Text als Gleichnis: als fiktionale, von der Wirklichkeit Gottes her entworfene Erzählung. Sie haben aber darüber hinaus als Brüche im Geschehensverlauf auch Bedeutung für die Struktur des Textes.
Die Gliederung, die sich aus den notierten Beobachtungen ergibt, lässt sich wie folgt in einer Übersicht darstellen:[112]
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Eine erzählstilorientierte Analyse ermöglicht es also, eine Erzählung in Szenen zu gliedern, dabei die narrativen Verbindungen zwischen ihnen darzustellen und zu erheben, welche Elemente und Passagen der Erzähler mit besonderen Akzenten versehen hat. Eine Unschärfe des Verfahrens erwächst jedoch aus dem Sachverhalt, dass gleichartige Phänomene unterschiedlich verwendet und auf verschiedenen Ebenen der Erzählung angesiedelt sein können.
Unterschiedlich verwendet sind innerhalb von Lk 15,11b–32 z.B. die beiden Einblicke in die Gefühle von Vater (V. 20b) und älterem Sohn (V. 28a): Der erste steht am Beginn, der zweite am Ende einer Szene. Auf verschiedenen Ebenen der Erzählung liegen etwa die Zeitsprünge zwischen V. 12 und V. 13, zwischen V. 20a und V. 20b sowie vor und nach V. 24c, ferner die jeweils das folgende Geschehen vorbereitenden Aussagen in V. 14b und V. 24c.
Infolge dieser Unschärfe erlaubt es eine am Erzählstil orientierte Untersuchung nicht, die identifizierten Szenen und die darin enthaltenen Passagen der Erzählung in eine hierarchische Ordnung zu bringen. Solch eine Analyse ist deshalb ihrerseits darauf angewiesen, durch Beobachtungen zu Thema, Inventar und Sprache des Textes präzisiert zu werden.
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