Der Dreißigjährige Krieg. Axel Gotthard

Der Dreißigjährige Krieg - Axel Gotthard


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schließlich mit Truppenmacht an den Niederrhein. Dort engagierte sich mittlerweile auch die Union immer offener – so hatte Christian von Anhalt, die Graue Eminenz des Heidelberger Kurhofes, den Oberbefehl über die Truppen der „Possedierenden“ übernommen, und 1610 sandte die Union zweimal Truppen ins Elsass, um Leopolds Werbungen dort zu stören: eindeutig offensive Operationen auf bundesfremdem Gebiet, ein gefährlicher Präzedenzfall, gewagt, weil man sich französischer Rückendeckung sicher wähnte.

      Für die Geschichte der Union sollte der zweite Einfall ins Elsass (vom Mai 1610) folgenreich werden. Wir müssen, anstatt aller Einzelheiten, nur drei Umstände kennen, um die Brisanz des Unternehmens verstehen zu können: Erstens war offenkundig, dass die katholischen Musterungen nicht Südwestdeutschland galten, dass sich Erzherzog Leopold endlich Respekt als kaiserlicher Administrator von Jülich verschaffen wollte. Man kann also nicht sagen, dass die Union unmittelbar bedroht gewesen wäre. Zweitens waren nur vier Unionsfürsten überhaupt eingeweiht: der kurpfälzische Direktor, sodann Moritz von Hessen-Kassel, der Ansbacher Markgraf Joachim Ernst und Georg Friedrich von Baden. Diese vier ‚Aktivisten‘ rissen einfach das Heft des Handelns an sich, schickten Unionstruppen über den Rhein. Weil sie wussten, dass die Militäraktion auf bundesfremdem Gebiet nicht konsensfähig war, wurden die Verbündeten eben gar nicht erst gefragt, auch nicht jene, die über ihre mitziehenden Truppen unfreiwillig in den Coup verwickelt waren. Sie alle wurden hinterher informiert. Sodann, drittens, ließen sich die Unionstruppen [<<49] zahlreiche Übergriffe zuschulden kommen, sie plünderten Mutzig, verwüsteten Molsheim, wüteten in der Landvogtei Hagenau, es gab Dutzende, vielleicht über hundert Tote.

      Die meisten Unionsstände (einhellig die vorsichtigen, konfliktscheuen reichsstädtischen Magistrate) waren empört über den eklatanten Landfriedensbruch, der da auch in ihrem Namen verübt worden war. An den Unionstagen der Folgejahre wird der Einfall ins Elsass immer wieder als Begründung dafür herhalten, dass die Reichsstädte mehr Kontrolle über die Unionspolitik verlangen und/oder neue Steuern verweigern werden. Der Coup hat dem Bündnis in seinem dritten Jahr Wunden geschlagen, die nie mehr ganz verheilen sollten. Das latente Dauerproblem der Union war schlagartig unübersehbar geworden: dass da Regierungen mit ganz unterschiedlichen, verschieden konfrontationsbereiten politischen Vorstellungen miteinander auskommen mussten.

      Wird die Union gar in einen großen europäischen Krieg hineingerissen?

      Die längerfristigen Folgen der elsässischen Aggressionen waren also erheblich. Dabei war denjenigen, die sich nun und noch jahrelang darüber empörten, nicht einmal klar, dass es seit dem Winter 1609/10 um viel mehr als ‚nur‘ um Jülich und Kleve gegangen war. Während die meisten Auhausener damals ängstlich um Frieden und Stabilität in Mitteleuropa bangten, verhandelte Christian von Anhalt (bei sehr selektiver Information seiner Auhausener Verbündeten) in Paris mit Heinrich IV. über gemeinsame antihabsburgische Militäraktionen am Niederrhein. In beider Augen eröffnete die Jülicher Erbfolgekrise Chancen, die Stärkung des Protestantismus im Reich mit einer Zurückdrängung des spanischen Einflusses auf den Nordwesten des Kontinents, ja, überhaupt einer einschneidenden Schwächung der Position Habsburgs in Europa zu verbinden. Sie wollten den niederrheinischen Erbkonflikt mit der antispanischen Europapolitik Frankreichs verquicken. Ersterer sollte Paris den Vorwand zum Losschlagen liefern und deutsche Unterstützung eintragen.

      Im Februar 1610 fixierten die Auhausener und Emissäre aus Paris im Vertrag von Schwäbisch Hall die Truppenkontingente für gemeinsame Militäroperationen am Niederrhein, wo Jülich inzwischen von Söldnern der österreichischen Habsburger unter Erzherzog Leopold besetzt worden war – sie gelte es mit vereinten Kräften von dort zu vertreiben. Der Vertragstext deutet, genau gelesen, die Möglichkeit [<<50] bedenklicher Weiterungen an: Falls der König wegen seines Engagements in und um Jülich von den Madridern oder den Brüsselern angegriffen würde, stünde ihm die Union mit viertausend Mann zu Fuß und tausend Reitern zur Seite, heißt es da; umgekehrt sicherte Heinrich den Unionsständen, falls die „sur le sujet de Julliers, ou autre concernant l’union“ (wegen Jülichs oder aus einer anderen das Bündnis betreffenden Ursache) attackiert würden, achttausend Fußsoldaten und zweitausend Berittene zu. Eklatant war, dass sich die Auhausener verpflichteten, keinen Vertrag, „qui importe à la cause commune“ (der für die gemeinsame Sache relevant ist), ohne vorherige Zustimmung des Bourbonen abzuschließen – einmal ins Kampfgeschehen am Niederrhein verwickelt, würde es für die Union keinen billigen diplomatischen Notausgang mehr geben. Dass der Kampf um Jülich für Heinrich von vornherein lediglich die Ouvertüre zu viel weiter reichenden Schlägen gegen das Haus Habsburg und zumal seinen spanischen Zweig sein sollte, wussten die meisten Auhausener freilich nicht, und sie kannten nicht das Ausmaß seiner Zurüstungen.

      Denn Heinrich palaverte nicht nur, er stellte ein nach damaligen Maßstäben imposantes Heer auf die Beine – eine Nordarmee von zwanzigtausend Mann, eine südliche von zwölftausend: Ein Zangengriff auf Habsburg wurde da offenbar vorbereitet, wofür sonst so immense Rüstungsanstrengungen? Wie weit Heinrich gehen wollte, ob er gar vorhatte, zu einem Angriff auf die Iberische Halbinsel weiterzuschreiten, wissen wir nicht. Jedenfalls aber spielte sich Gewaltiges ab in Frankreich, und die Union wäre mit dabei gewesen – als Heinrich, am 14. Mai 1610, von der Hand eines Wirrkopfs, eines konfessionellen Fanatikers ermordet wurde: ein Paradebeispiel dafür, welches Gewicht biografischen Zufälligkeiten für vormoderne geschichtliche Abläufe zukommen kann. Heinrich starb ohne regierungsfähigen Nachfolger; an der Seite einer Regentin zweifelhafter Legitimität und zweifelhafter Intelligenz wollten selbst die Verwegensten unter Deutschlands Protestanten dann doch nicht gegen die Weltmacht Habsburg marschieren. Auch Paris stellte seine antihabsburgischen Projekte augenblicklich zurück. Wie im Vertrag von Schwäbisch Hall vereinbart, halfen französische Truppen bei der Belagerung von Jülich, das am 1. September 1610 kapitulierte. Danach zogen sie sich nach Frankreich zurück. [<<51]

      Der malade Zustand des Reichsverbands wird zum Kriegsrisiko

      Mitteleuropa war damals einem großen Krieg bedenklich nah. Wir erkennen schon hier, 1610, viele Konfrontationsmuster, die das Reich dann 1619 tatsächlich – erneut wegen regionaler Querelen, bei denen die allermeisten Reichsstände unmittelbar gar nichts zu gewinnen haben – in den Kriegsstrudel ziehen werden: Die Polarisierung des Reichsverbands ist so weit vorangeschritten, dass man seine konfessionspolitischen Anliegen militärisch verteidigen zu dürfen und zu müssen meint, sogar außerhalb des engeren regionalen Umfelds, sogar im Grenzsaum des Reiches. Das Gefühl, überall in die Enge getrieben zu werden, ist so bedrängend, dass Defensive, Vorwärtsverteidigung und Prävention in der subjektiven Wahrnehmung der Beteiligten an Trennschärfe einbüßen. Die Bereitschaft, sich bei alldem nichtdeutscher Unterstützung zu bedienen, war bei den ‚Aktivisten‘ von 1610 noch größer als 1619. Die Union präsentierte sich zwei Jahre nach ihrer Gründung kraftvoll, selbstbewusst und erreichte gerade, nach dem Beitritt Kurbrandenburgs, ihren höchsten, bald danach wieder abbröckelnden Mitgliederstand (der Fenstersturz wird das Bündnis ja als ein bereits niedergehendes, in sukzessiver Auflösung begriffenes ereilen). Doch war das Ausmaß der Konfrontationsbereitschaft eben auch im Frühjahr 1610 nicht überall gleich, weshalb – wiederum prototypisch – Christian von Anhalt vorpreschte, im Grunde bis hin zur Täuschung der meisten Verbündeten, die ‚lediglich‘ die konfessionelle Ausrichtung der niederrheinischen Herzogtümer im Blick hatten. So wenig das Gros der Unionsstände um 1620 eigentlich böhmische Interessen hat, so wenig gab es für die allermeisten Unierten 1610 am Niederrhein unmittelbar etwas zu gewinnen; die Aussicht, dem anderen konfessionellen Lager eins auszuwischen, es zu schädigen, zu demoralisieren – das reichte als Anreiz. Die Ermordung Heinrichs IV. dürfte einen großen Krieg unter Beteiligung der deutschen Protestanten vereitelt haben.

      Erneute Kriegsgefahr 1614

      Nur vier Jahre später drohten erneut kriegerische Verwicklungen. Die Spannungen zwischen den Brandenburgern und den mittlerweile von einem katholischen Pfalzgrafen regierten Neuburgern eskalierten, holländische und spanische Truppen setzten sich in Bewegung. War der Reichsverband schon so ruinös polarisiert, dass ihn nach den traditionellen französisch-habsburgischen Rivalitäten nun die seit Generationen mal virulenten, mal latenten Spannungen zwischen Madrid [<<52] und Den Haag in den Kriegsstrudel zu reißen drohten? Im November 1614 gelang, sozusagen im letzten Augenblick, dank internationaler Vermittlung


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