Kreatives Schreiben. Oliver Ruf
FlusserFlusser, Vilém
wurde am 12. Mai 1920 in Prag als Sohn einer jüdisch-tschechischen Akademikerfamilie, deren Mitglieder er alle in Konzentrationslagern verlor, geboren. Nach dem Beginn eines Philosophiestudiums an der Karls-Universität flüchtete er 1939 vor den Nationalsozialisten; nach einer Station in London emigrierte er 1940 mit der Familie seiner späteren Ehefrau Edith Barth nach Brasilien. Bis 1950 war er im Im- und Export tätig, bevor er – nach intensivem Studium, Lehr- und Vortragstätigkeiten – 1962 Mitglied des Brasilianischen Philosophischen Instituts und 1967 Professor für Kommunikationstheorie an der Universität São Paulo wurde. Aufgrund der politischen Situation unter der Militärregierung verließ er 1972 Brasilien in Richtung Meran (Südtirol) und Robion (Provence). Flusser schrieb seine Texte in Englisch und Französisch, vor allem in Portugiesisch und Deutsch, seltener in seiner Muttersprache Tschechisch. 1991 war er auf Einladung von Friedrich KittlerKittler, Friedrich A. Gastprofessor an der Ruhr-Universität Bochum, wo er Vorlesungen hielt, um seine Kommunikologie weiter zu denken. Nach einem Vortrag am Prager GoetheGoethe, Johann Wolfgang von-Institut starb Vilém Flusser am 27. November 1991 an den Folgen eines Autounfalls kurz vor der deutschen Grenze.
Die Metapher der Durchdringung, der Eindringung (Inskription) und Eindringlichkeit des Schreibens dominiert so dessen Begriff à la FlusserFlusser, Vilém; der etymologische Zusammenhang des deutschen Worts ›Schreiben‹ mit dem englischen Writing wird von Flusser dabei ausdrücklich herausgestellt:
Das englische »to write« (das zwar, wie das lateinische »scribere«, auch »ritzen« bedeutet) erinnert daran, daß »ritzen« und »reißen« dem gleichen Stamm entspringen. Der ritzende Stilus ist ein Reißzahn, und wer Inschriften schreibt, ist ein reißender Tiger: Er zerfetzt Bilder. Inschriften sind zerfetzte, zerrissene Bildkadaver, es sind Bilder, die dem mörderischen Reißzahn des Schreibens zu Opfern wurden.50Flusser, Vilém
[27]Diese bildstürmerische Begriffsbestimmung des Schreibens ist für ihn mit der Geschichte gesellschaftlicher Mechanismen konform. FlusserFlusser, Vilém konstatiert für seine Gegenwart, dass so genannte Script writerScript writer »am Ausgang der Geschichte und am Eingang der Apparate« stehen:
Sie beschleunigen den Output der Geschichte, um den Apparaten den von ihnen benötigten Input zu liefern. Sie liefern die Geschichte an die Apparate aus und überliefern ihnen damit den Sinn alles Geschehens. […] Die Script writers, diese Gladiatoren, die im Medienzirkus die Schrift in Netze fangen, um sie abzuwürgen, und die dabei selbst abgewürgt werden, erwecken in uns nur darum keine Empörung, weil wir, die wir bewußtlos und ohnmächtig sind, sie hinter den Bildern überhaupt nicht wahrnehmen können. Wir nehmen den Beitrag nicht wahr, den das Alphabet den Bildern noch immer leistet. In diesem sehr entscheidenden Sinn sind wir bereits Analphabeten geworden.51
Letztendlich erfüllt eine solche SchreibweiseSchreibweiseDie »Schreibweise« (R. BarthesBarthes, Roland) die von Roland Barthes scharf gestellte gesellschaftliche Funktion des Schreibens, dass sie die »Beziehung zwischen dem Geschaffenen und der Gesellschaft« sei, d.h. die »durch ihre soziale Bestimmung umgewandelte literarische Ausdrucksweise«, die »in ihrer menschlichen Intention ergriffene FormForm«, die »somit an die großen Krisen der Geschichte gebunden ist«.52Barthes, RolandSchriftsteller Diese im Zuge einer Begriffsbestimmung des Schreibens hin und her zu wendende Schreib- und Schrift-Debatte53KulturtechnikHandschriftKittler, Friedrich A.Aufschreibesystem berührt in nuce eine politische Frage.54 Mit FlusserFlusser, Vilém formuliert: »Texte schreiben« ist in einer Gesellschaft die »eigentlich politische GesteGeste«:
[28]Alles übrige politische Engagement folgt auf Texte und befolgt Texte. Wird obige Frage im konkreten Kontext des Textuniversums (und nicht »in vacuo«) gestellt, dann zeigt sich, daß ich, der Schreibende, nicht für alle Menschen, sondern für die von mir erreichbaren Empfänger da bin. Die Vorstellung, ich schreibe für jemanden»[D]er Text [wird] für den Vermittler geschrieben.«, ist nicht nur megaloman, sie ist auch Symptom eines falschen politischen Bewußtseins. Erreichbar sind für den Schreibenden nur jene Empfänger, die mit ihm durch seinen Text übermittelnde Kanäle verbunden sind. Daher schreibt er nicht unmittelbar an seine Empfänger, er schreibt vielmehr an seinen Vermittler. Er ist in erster Linie für seinen Vermittler da, wobei »in erster Linie« buchstäblich zu nehmen ist: Von der ersten Linie des Textes bis zur letzten wird der Text für den Vermittler geschrieben. Der ganze Text ist von der Tatsache getränkt, daß er in erster Linie für einen Vermittler geschrieben wurde.55Flusser, Vilém
Die Vermittlungsfunktion des Schreibens, die es, wie Konrad EhlichEhlich, Konrad sagt, möglich macht, von ihr als ›Zerdehnung‹ einer KommunikationssituationKommunikationssituation zu sprechen,56Ehlich, Konrad konstituiert zugleich dessen hier mit FlusserFlusser, Vilém kurz umrissene Begriffsdimension. Das Schreiben für einen Vermittler impliziert, dass man, bevor man ein Schriftstück liest, wissen muss, welches Codes es sich bedient hat: »Man muß es«, erklärt Flusser, »zuerst dekodifizieren, bevor man darangeht, es zu entziffern«, und EntziffernEbenen der kodifizierten BotschaftBotschaft bedeute »ein Auseinanderfalten dessen, was der Bezifferer in sie hineingelegt, impliziert hat« – »nicht nur auf der Ebene der einzelnen Ziffer, sondern auf allen Ebenen der kodifizierten Botschaft.«57Flusser, Vilém Schriftstücke seien an Entzifferer gerichtet: »Der Schreibende streckt seine HandHand dem anderen entgegen, um einen Entzifferer zu erreichen. Seine politische GesteGeste des Schreibens geht aus, nicht um Menschen schlechthin, sondern um Entzifferer zu ergreifen.«58 Noch einmal:
Die Leser, an die man schreibt, sind Kommentatoren (die das Geschriebene zerreden) oder Befolger (die sich wie Objekte ihm unterwerfen) oder Kritiker (die ihn zerfetzen) – falls überhaupt Leser gefunden werden. Daher ist das Gefühl der Absurdität des Schreibens, das viele Schreibende erfaßt und ihnen im Nacken sitzt, nicht nur auf äußere Tatsachen wie Textinflation und Emportauchen geeigneterer Codes zurückzuführen. Es ist vielmehr eine [29]Folge des Bewusstwerdens des SchreibensBewusstwerdens des Schreibens als Engagement und als ausdrückende GesteGeste.59
Das Bewusstwerden des Schreibens als kulturell-gesellschaftliche Teilhabe wie als gestische Expression bringt eine für die Begriffstheorie des Kreativen Schreibens prägende Annahme ein: Die IdeeIdee, kreativ zu schreiben, fußt auf den Vorstellungen von Schreiben als einem Ensemble heterogener Faktoren, die eine ›Schreib-SzeneSchreib-Szene‹ bzw. ›SchreibszeneSchreibszene‹ konstituieren: »Auch und gerade wenn ›die Schreib-Szene‹ keine selbstevidente Rahmung der Szene, sondern ein nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und GesteGeste bezeichnet, kann sie«, so Rüdiger CampeCampe, Rüdiger, »dennoch das Unternehmen der Literatur als dieses problematische Ensemble, diese schwierige Rahmung kennzeichnen«60Campe, RüdigerSchreibszene – eine Rahmung, die in einem Projekt Zur Genealogie des SchreibensGenealogie des SchreibensZur Genealogie des SchreibensGenealogie des Schreibens von Martin StingelinStingelin, Martin aufgegriffen und komplettiert worden ist. In einem programmatischen Beitrag mit dem Titel ›Schreiben‹. Einleitung zeigt er die sich im, beim und durch Schreiben grundlegend bildende Szene als Inszenierung auf:
1 Das Schreiben hält sich bei und an sich selbst auf, indem es sich selbst thematisiert, reflektiert und problematisiert, und schafft so einen Rahmen, durch den es aus dem Alltag herausgenommen, gleichsam auf eine Bühne gehoben ist, auf der es sich präsentiert und darstellt;
2 dabei stellen sich verschiedene Rollenzuschreibungen und Rollenverteilungen ein; diese wiederum werfen
3 die Frage nach der Regie dieser Inszenierungen auf.61Stingelin, Martin
1.1.3. Was meint Kreatives Schreiben?
Zur Begriffsdiskussion des Kreativen Schreibens bieten sich die von StingelinStingelin, Martin im Anschluss an CampeCampe, Rüdiger getroffene Unterscheidung zwischen einer ›SchreibszeneSchreibszene‹ und einer ›Schreib-SzeneSchreib-Szene‹»Schreibszene« und »Schreib-Szene« an; unter der zweitgenannten versteht dieser »die historisch und individuell von AutorinAutor und Autor zu Autorin und Autor veränderliche Konstellation