Soziologie der Migration. Petrus Han
href="#ulink_3eb12732-9e45-5e97-a1fa-940d9d6e4190">Übersicht 1: Typologie der Migration nach William Petersen
Übersicht 2: Phasen des Assimilationsprozesses von Milton M. Gordon
Übersicht 4: Grundmodell der Assimilation von Wanderern
Übersicht 5: Vorläufige Systematik zentraler Begriffe der Forschung zur transnationalen Migration
Übersicht 6: Existentielle Unsicherheit und Orientierungsstörung als Folgen migrationsbedingter Entwurzelung und Desozialisierung
Übersicht 7: Strategien der Akkulturation und ihre Ergebnisse
Übersicht 8: Begriffliche Dimensionen der Eingliederung von Wanderern von Hartmut Esser
Übersicht 9: Prozesshafte Entwicklung ethnischer Mobilisierungen
Einführung
Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nehmen die Migrationsbewegungen weltweit stetig zu und erfassen die gesamten Weltregionen, so dass heute kaum eine Region von dieser Entwicklung unberührt bleibt. Im Jahr 2005 erreichte die Zahl der Migranten weltweit 191 Millionen, während sie bereits im Jahr 2008 die Schwelle von 200 Millionen überstieg. Zwischen 2000 und 2005 sind jährlich 3,3 Mio. Menschen aus den Entwicklungsländern in die Industrieländer ausgewandert. Man rechnet damit, dass diese Zahl zwischen 2005 und 2010 jährlich bei etwa 2,5 Mio. und zwischen 2010 und 2050 jährlich etwa bei 2,3 Mio. liegen wird (IOM, 2008, 2, 36, 80). Es wird davon ausgegangen, dass die Zahl der Migranten bis zum Jahr 2050 auf 230 Mio. ansteigen wird (vgl. UN, 2002/1; IOM, 2003, 5). Neu bei dieser Entwicklung ist die zirkulierende Fließrichtung der Migrationsbewegungen. Die einstige Einteilung zwischen den sog. Aus- und Einwanderungsländern relativiert sich. Viele Länder sind zeitgleich Aus- und Einwanderungsländer. Dabei findet ein Prozess der Diversifizierung der Migrationsbewegungen in dem Sinne statt, dass ihre Formen zunehmend differenzierter werden. Migration entwickelt sich zu einem globalen Phänomen, so dass von einem „age of migration“ (vgl. Stephen Castles, Mark J. Miller, 1993, 3) gesprochen wird.
Soziologie der Migration als Forschungsrichtung der speziellen Soziologie ist keineswegs neu. Sie bildete bereits in den 1920er Jahren einen Forschungsschwerpunkt der Soziologie an der Universität Chicago/USA. Sicherlich ist es kein Zufall, dass diese Disziplin bisher in dem größten Einwanderungsland, den USA, und in den anglophonen Einwanderungsländern ihre theoretische und empirische Akzentuierung und Fortentwicklung erfahren hat und noch erfährt. Dagegen ist sie in Deutschland, von da aus zwischen 1820 und 1930 fast 6 Mio. Menschen nach Nordamerika ausgewandert sind, bis in die 1970er Jahre kaum bekannt. Sie gewinnt ihre fachliche Aufmerksamkeit erst im Zusammenhang mit der Einwanderung großer Zahlen von Arbeitsmigranten seit der Mitte der 1950er Jahre und mit den von ihr zeitlich versetzt eintretenden sozialen Problemen in den 1970er Jahren. In der Bundesrepublik Deutschland beginnt die sporadische Rezeption der Migrationssoziologie erst in den 1980er Jahren. Seit den 1990er Jahren nehmen in der Bundesrepublik Deutschland die Forschungen über selektive Themen der Zuwanderungsproblematik in ihrem Umfang zu. Sie bleiben jedoch als Einzelforschungen weitgehend unkoordiniert und ohne integralen Theorieansatz.
Vor diesem Hintergrund wurde das vorliegende Buch als Einführung in die komplexen Themenbereiche der Migrationssoziologie konzipiert. Anlass dazu waren die Erfahrungen des Autors mit Studierenden und Mitarbeitern in den Migrationsdiensten, mit denen er in Lehr- und Fortbildungsveranstaltungen über Fragen aus dem Themenkomplex der Migration arbeitete. Ausgangspunkt dieser Diskurse bildete die Zuwanderungssituation in der Bundesrepublik Deutschland im unmittelbaren Zusammenhang mit den globalen Entwicklungstendenzen der Migrationsbewegungen.
Absolut gesehen verzeichnete Deutschland seit den 1980er Jahren die größte Zuwanderung in Europa, die wesentlich aus der anhaltenden Zuwanderung der Familienangehörigen von Arbeitsmigranten, deutschstämmigen Aussiedlern und Asylsuchenden bestand. Die Folgen dieser Zuwanderung waren vielfältig. Deutlich wurde insbesondere, dass die Zahl der Ausländer trotz des generellen Anwerbestopps von Arbeitsmigranten 1973 und trotz der restriktiven Verschärfung der legislativen Bestimmungen der Zuwanderung kontinuierlich gestiegen war. Diese Entwicklung war auch in allen europäischen Nachbarländern zu beobachten. Sie wurde von einem großen Teil der deutschen Bevölkerung mit diffusen Ängsten und wirtschaftlich begründeten Sorgen beobachtet. Zu Beginn der 1990er Jahre löste sie sogar gewalttätige fremdenfeindliche Reaktionen aus, die nicht nur dem internationalen Ansehen Deutschlands schadeten, sondern auch die interethnischen Beziehungen belasteten.
Seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre geht die Zahl der Zuwanderer in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund der restriktiven Zuwanderungspolitik kontinuierlich zurück. Dennoch blieb die Frage der gesellschaftlichen Integration der Zuwanderer ungelöst. Die Fachkräfte in den Migrationsdiensten, die mit der professionellen Betreuung und Beratung von Migranten unterschiedlicher ethnischer Herkunft beauftragt sind, suchen nach wissenschaftlichen Erkenntnissen und problemorientiertem Fachwissen aus der Migrationsforschung. Zudem nimmt an den Hochschulen die Zahl der Studierenden und Doktoranden der 2. und 3. Generation der Aussiedler und Arbeitsmigranten zu, die sich in ihren Examens- und Promotionsarbeiten auch mit der eigenen familialen Migrationsgeschichte auseinandersetzen.
Ein weiterer Anlass zu dem vorliegenden Buch war die zunehmende Bedeutung, die der Autor der Migrationsthematik beimisst. Viele Anzeichen sprechen dafür, dass die Migrationsbewegungen und die damit verbundenen Folgeprobleme weiter zunehmen werden. Die fortschreitende Liberalisierung und Globalisierung im Personen-, Waren- und Kapitalverkehr werden zu wachsenden internationalen Verflechtungen der Nationalstaaten im politischen, wirtschaftlichen, soziokulturellen und ökologischen Bereich führen. Diese Entwicklung bedeutet faktisch die kontinuierliche Zunahme der Migrationsbewegungen von Arbeitskräften. Die Fortentwicklung von Informations-, Kommunikations- und Transporttechnologien erleichtert und fördert nicht nur die Globalisierung von Politik und Wirtschaft, sondern auch die der Migrationsbewegungen. Menschen können heute nicht nur große geographische Entfernungen relativ schnell und kostengünstig überwinden, sie werden auch laufend über die Lebensbedingungen in anderen Ländern informiert, so dass ihr Informationsstand über die „Push-und-Pull-Faktoren“ ständig verbessert wird. Die wachsenden strukturellen Ungleichheiten zwischen Nord und Süd bzw. zwischen Ost und West werden den allgemeinen Migrationsdruck auf die wenigen Industrieländer weiter erhöhen. Die Bemühungen der Industrieländer, dem weltweit wachsenden Migrationsdruck durch restriktive Verschärfung ihrer legislativen und administrativen Maßnahmen zu begegnen, werden zwangsläufig zu steigenden illegalen Migrationsbewegungen führen. Auf der anderen Seite werden die politischen und wirtschaftlichen Gemeinschaftsbildungen von Nationalstaaten (z.B. EU, NAFTA, AFTA, APEC, ASEAN) die regionale Integration der Länder vorantreiben und dadurch in wachsendem Ausmaß regionale Migrationsbewegungen innerhalb der jeweiligen Gemeinschaften auslösen.
Vor dem Hintergrund der Zuwanderungssituation in der Bundesrepublik Deutschland und der weltweit zunehmenden Migrationsbewegungen hat das vorliegende Buch das Ziel, Studierenden, Mitarbeitern in den Migrationsdiensten und interessierten Lesern einen strukturierten Überblick über migrationssoziologische Zusammenhänge zu vermitteln. Es handelt sich um eine selektive Zusammenfassung, Strukturierung und Bewertung von Themen, die den Lesern umfassende und praxisnahe Orientierung bieten sollen.
Der inhaltliche Aufbau des Buches folgt dabei, um vorab einen Überblick zu geben, einer Konzeption, in der versucht wird, Begriffe, Ursachen, Verläufe, Folgen und Perspektiven der Migration in der Reihenfolge der Nennung zu thematisieren. Dadurch soll sich aus der Summe der behandelten Themen ein abgerundetes Bild des Migrationsvorganges, angefangen von dem individuellen Entscheidungsprozess über die physische Emigration aus dem