Sprache: Wege zum Verstehen. Kirsten Adamzik
gleichermaßen zugängliche Erfahrungen beziehen, z.B. die über den eigenen Körper (mindestens die sichtbaren Teile davon), über die Erde, den Himmel usw. Alle diese Erfahrungen |29◄ ►30| sind aber auch schon, teilweise auf Grund der speziellen Lebensbedingungen, kulturell überformt, und dies schlägt sich auch in unterschiedlichen Versprachlichungen nieder. Wie viele Finger hat z.B. der (gesunde) Mensch? Das kannst du dir an den fünf/zehn Fingern abzählen! kann man im Deutschen sagen – also fünf an jeder Hand. Allerdings ist der eine davon (der Daumen) ziemlich anders als die anderen, und man kann ihn auch sprachlich als gesonderten Körperteil betrachten. Entsprechendes gilt zumindest teilweise für das Englische. In Wörterbüchern findet man folgende Erklärungen für finger: There are five fingers (or four fingers and one thumb) on each hand; oder: Any of the terminal members of the hand, esp. one other than the thumb; oder: One of the digits of the hand, usually excluding the thumb.
Das Feldbusch-Beispiel illustriert die weiter unterschiedenen Bereiche, die wir zum Gedächtnis von kulturellen und sozialen Gemeinschaften zählen können. Zum historisch-sozialen Kontext gehört etwa das Wissen um das Möbelhaus Ikea und die Formen der gegenwärtigen Unterhaltungs- und Werbeindustrie. Sehr gruppenspezifisch (und viel vergänglicher) ist die Kenntnis der Person Verona Feldbusch, die heute auch eher unter dem Namen Verona Pooth bekannt ist.
Das Modell ist als kommunikativer Austausch zwischen zwei Individuen schematisiert. Als »Partner« kommen aber natürlich auch Personen (gruppen) in Frage, die ihre Texte medial vermitteln. Hier greifen dann Kenntnisse über den Partner und über den (sozialen) Ort, als den man etwa bestimmte Presseorgane (Spiegel, Hohlspiegel, Bild) oder auch die Sparkasse betrachten kann, ineinander.
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6 Wozu man Sprache braucht – Sprachfunktionen
Die kommunikative Funktion
Die Frage danach, wozu die Sprache den Menschen dient, scheint auf den ersten Blick etwas abwegig, so selbstverständlich ist es uns, sie als das Mittel aufzufassen, mit dessen Hilfe wir uns verständigen. Die Sprache benutzen wir also – was sonst? – zur Kommunikation. Immerhin können wir weiter fragen: Was ist denn Kommunikation, welchem Zweck dient sie? Dem Gedankenaustausch oder, moderner ausgedrückt, der Informationsübermittlung? So einfach ist es gewiss nicht, und im vorigen Kapitel haben wir natürlich nicht zufällig Beispiele betrachtet, für die eine solche Kennzeichnung nicht ausreicht. Gewiss, den drei Texten aus dem Hohlspiegel können wir jeweils Informationen entnehmen, u.a. dass Feldbusch gegen Ikea geklagt hat und dass jemand ein Buch gegen einen Kinderwagen tauschen will. Im |30◄ ►31| zweiten Fall (wenn der Text überhaupt ernst gemeint war) geht es aber schon einmal gar nicht so sehr um eine Information, sondern um ein Angebot. Der Schreiber will nicht einfach, dass andere wissen, dass er einen Tausch machen will, er will jemanden zum Tausch anregen und hat zu diesem Zweck der Information auch seine Telefonnummer beigegeben, nicht weil es ihm wichtig wäre, dass die Leute wissen, welche Telefonnummer der Tauschwillige hat, sondern damit ein Interessent ihn anrufen kann. Diese Telefonnummer ist allerdings im Hohlspiegel geschwärzt, unleserlich gemacht, so dass der Aufruf zum Anruf gar nicht mehr wirksam werden kann und dem Text allenfalls eine andere Funktion zukommt. Er dient natürlich – wie die anderen Texte aus dieser Rubrik auch – zur Belustigung der Leser. Auch das müssen wir wohl als eine kommunikative Funktion betrachten, wenn wir unter kommunikativer Funktion den (beabsichtigten) Effekt verstehen wollen, den eine Äußerung beim Hörer oder Leser auslöst: Er erweitert seine Kenntnisse, er wird zu einer Handlung angeregt, er ist belustigt – die Äußerung hat also Wirkungen mindestens auf der kognitiven, der praktischen und der emotionalen Ebene.
Nicht-kommunikativer Sprachgebrauch
So selbstverständlich dem common sense die Annahme ist, die Sprache sei ein Kommunikationmittel, so leicht ist es dennoch, sich auch aus dem Alltag Erfahrungen bewusst zu machen, die zeigen, dass diese Funktionsbeschreibung nicht ausreicht. Zu diesen Erfahrungen gehört, dass es auch sprachliche Äußerungen gibt, denen man kaum einen kommunikativen Zweck zuschreiben kann. Wie ist es z.B. zu verstehen, dass Leute auch sprechen, ohne dass irgendjemand in Hörweite ist (oder ein Aufnahmegerät die Worte speichert)? Oder dass sie gar ganze Bücher schreiben, ohne die Absicht zu haben, sie je einem anderen zum Lesen zu geben, die sie vielleicht sogar wegschließen, um zu verhindern, dass ein fremdes Auge einen Blick hineinwirft, wie es manche mit ihren Tagebüchern tun? Oder wie ist es zu verstehen, dass Leute Briefe an andere Personen schreiben – mit der festen Absicht, sie nicht abzuschicken? Kommunizieren diese Menschen dann mit sich selbst? Das kommt natürlich häufig vor: Man schreibt Einkaufslisten oder sonstige Notizen, um sich diese Informationen zu einem späteren Zeitpunkt – wenn man möglicherweise nicht ganz derselbe ist, nämlich gewisse Dinge vielleicht vergessen hat – selbst zu geben. Man liest sein Tagebuch, um sich zu vergegenwärtigen, was früher geschehen ist, wie man die Dinge erlebt, was man empfunden hat, vielleicht auch, um eine bestimmte Stimmung wiederzufinden.
Selbstgespräche Die kognitive Funktion
Dergleichen kann allerdings für Selbstgespräche (sofern man sie nicht speichert) natürlich nicht gelten. Führen Sie Selbstgespräche? Was ist ein Selbstgespräch? Wenn wir unter einem Selbstgespräch verstehen, dass jemand laut vor sich hinredet, gleichgültig, ob ein anderer da ist und jedenfalls ohne sich an jemanden zu wenden, dann wird es wohl viele Leute geben, die so etwas nicht tun und es gar als pathologisches Phänomen betrachten. Wenn wir dazu jedoch auch die Fälle zählen, in denen wir nicht unbedingt etwas Hör- oder Sichtbares produzieren, dann ist Selbstgespräch nur ein anderes Wort für ›nachdenken‹, und das tun wir alle. Man mag Nachdenken nun für einen Unter- bzw. Grenzfall von Kommunikation halten oder nicht, auf jeden Fall haben wir es hier nicht mit Informationsübermittlung zu tun! Eine Information, oder besser die Gedanken, sind noch gar nicht da, sondern sie werden beim Reden oder Schreiben erst entwickelt. Insofern ist Sprache mindestens auch ein Mittel des Denkens, hat also kognitive Funktion (vgl. dazu Textbeispiel 6).
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Textbeispiel 6: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden
Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben ein scharfdenkender Kopf zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du ihn drum befragen solltest: nein! Vielmehr sollst du es ihm selber allererst erzählen. Ich sehe dich zwar große Augen machen, und mir antworten, man habe dir in frühern Jahren den Rat gegeben, von nichts zu sprechen, als nur von Dingen, die du bereits verstehst. Damals aber sprachst du wahrscheinlich mit dem Vorwitz, andere, ich will, daß du aus der verständigen Absicht sprechest, dich zu belehren, und so könnten, für verschiedene Fälle verschieden, beide Klugheitsregeln vielleicht gut nebeneinander bestehen. Der Franzose sagt, l’appétit vient en mangeant, und dieser Erfahrungssatz bleibt wahr, wenn man ihn parodiert, und sagt, l’idée vient en parlant. Oft sitze ich an meinem Geschäftstisch über den Akten, und erforsche, in einer verwickelten Streitsache, den Gesichtspunkt, aus welchem sie wohl zu beurteilen sein möchte. Ich pflege dann gewöhnlich ins Licht zu sehen, als in den hellsten Punkt, bei dem Bestreben, in welchem mein innerstes Wesen begriffen ist, sich aufzuklären. Oder ich suche, wenn mir eine algebraische Aufgabe vorkommt, den ersten Ansatz, die Gleichung, die die gegebenen Verhältnisse ausdrückt, und aus welcher sich die Auflösung nachher durch Rechnung leicht ergibt. Und siehe da, wenn ich mit meiner Schwester davon rede, welche hinter mir sitzt, und arbeitet, so erfahre ich, was ich durch ein vielleicht stundenlanges Brüten nicht herausgebracht haben würde. Nicht, als ob sie es mir, im eigentlichen Sinne sagte; denn sie kennt weder das Gesetzbuch, noch hat sie den Euler, oder den Kästner studiert. Auch nicht, als ob sie mich durch geschickte Fragen auf den Punkt hinführte, auf welchen es ankommt, wenn schon dies letzte häufig der Fall sein mag. Aber weil ich doch irgend eine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntnis, zu meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist. Ich mische unartikulierte