Internationale Beziehungen. Christian Tuschhoff
»Der Konstruktivismus befasst sich mit dem menschlichen Bewusstsein und seiner Rolle im internationalen Leben« schreibt John G. Ruggie (1998: 856, Übersetzung ChT). Es seien deshalb nicht die materiellen Faktoren, die über Konflikt oder Kooperation entscheiden, sondern immaterielle, insbesondere die Vorstellungswelten von Menschen und sozialen Gruppen.
Sozialidee
Ideengeschichtlich wurzelt der Konstruktivismus in den Schriften zweier Spanier, des Theologen Francisco de Vitoria (ca. 1483–1546) und des Juristen Fernando Vasques (1512–1569), sowie in denen des niederländischen Philosophen Hugo Grotius (1583–1645). Letzterer hat die Sozialidee in die Internationale Beziehungen eingeführt, die den verbindenden Kern zwischen den verschiedenen Varianten des Konstruktivismus bildet. Über dem Staat erkannte Grotius eine »übernationale Verbundenheit der Menschen [...] als die umfassendste Gemeinschaft, für die gewisse grundlegende, Völker wie Fürsten bindende Sätze des Naturrechtes Gültigkeit besitzen [...]«. In dieser Gemeinschaft gelte ein »auf Vereinbarungen, Herkommen und überlieferte Staatenpraxis gestütztes, auf dem ›consensus gentium‹ beruhendes Recht« (Meyers 1979: 140–141).
Moderne Konstruktivisten wie Nicholas Onuf, Alexander Wendt, Emanuel Adler, Peter J. Katzenstein oder John G. Ruggie griffen diese Grundgedanken auf und entwickelten ihn weiter. Sie zogen dabei Verbindungen vor allem zur Soziologie. In Deutschland wird der Konstruktivismus vor allem von Friedrich Kratochwil, Thomas Risse oder Christopher Daase vertreten. Der Konstruktivismus hat aber auch eine große Zahl junger Politikwissenschaftler angezogen, die Theorie und empirische Forschung systematisch vorantreiben.
Sozialtheorie
Die Theorie des Konstruktivismus und ihre Auseinandersetzung mit anderen Theorien setzt auf einer höheren Abstraktionsebene an, als die bisher betrachteten IB-Theorien (vgl. Abb. 2.3). Der Konstruktivismus argumentiert zunächst auf der Ebene einer Sozialtheorie und korrespondiert deshalb mit dem Rationalismus. Sozialtheorien machen Aussagen über das Wesen des sozialen Lebens und den sozialen Wandel. Sie machen aber keine Aussagen über die Bedeutung sozialer Strukturen, das Wesen von Akteuren oder Politikergebnisse wie Konflikt und Kooperation. Der Rationalismus behauptet, das Wesen sozialen Lebens bestehe aus dem materialistischen Gewinnstreben. Der Konstruktivismus hält dagegen, immaterielle Vorstellungen von »richtig« und »falsch« oder »gut« und »böse« prägten die soziale Welt.
Varianten
Akteur und Struktur
Konkrete Aussagen zum Verhalten von Akteuren in internationalen Beziehungen sowie deren Ursache und Wirkung erfordern die Formulierung von konstruktivistischen IB-Theorien, die – wie Realismus, Institutionalismus, Liberalismus – eine Abstraktionsstufe tiefer angesiedelt sind. Hier gibt es viele verschiedene Varianten konstruktivistischer Theorie, die an dieser Stelle nicht im Einzelnen, sondern nur beispielhaft behandelt werden können. In seiner detaillierten Auseinandersetzung mit dem Realismus nach Kenneth Waltz argumentierte Alexander Wendt (Wendt 1999; 1992), dass Anarchie kein gleichermaßen naturgegebenes Merkmal der Struktur Internationaler Beziehungen sei. Vielmehr sei dieses Merkmal zustande gekommen, weil Staaten als Akteure es durch ihr Verhalten sozial »konstruiert« hätten. Insofern sei es Teil der Vorstellungswelt von Akteuren und könnte von denen auch wieder geändert werden. Denn Strukturen und Akteure beeinflussten sich gegenseitig: Akteure schafften Strukturen, die wiederum auf das Verhalten von Akteuren zurückwirkten und ihnen Akteursqualität verliehen (Wendt 1999; 1987).
Abb. 2.3 | Abstraktionsebenen von Theoriedebatten
Quelle: eigene Darstellung.
Identität
Eine weitere wichtige Frage konstruktivistischer Theoriebildung ist, wie Akteure wissen können, was »richtig« oder »falsch«, was »gut« oder »böse« ist. Die Antwort liegt in der Identität der Akteure. Wendt (1999) unterschied zwischen Typ-Identität und Rollen-Identität. Typ-Identität beziehe sich auf typische Merkmale von Staaten als Akteure. Dazu gehöre z. B., ob es sich um Demokratien oder Diktaturen, parlamentarische oder präsidentiale Systeme, theokratische oder säkularisierte Systeme handle. Die Vorstellung von richtigem und falschem Verhalten werde sich maßgeblich an diesen Akteursmerkmalen ausrichten. Rollen-Identitäten seien dagegen das Ergebnis von Beziehungen zu einem anderen Akteur. So empfänden Staaten andere Staaten als Freund, Wettbewerber, Rivale oder sogar als Feind. Dies ermögliche es, dass die USA z. B. fünf Kernsprengköpfe Nordkoreas als äußerst bedrohlich einstuften, die bis zu 200 Nuklearwaffen Israels jedoch für ungefährlich hielten (Finnemore/Sikkink 2001; Wendt 1999).
Sozial konstruierte Interaktion
Angemessenheit
Umfeld und Interesse
Von den rationalistischen Theorieschulen des Realismus, Institutionalismus und Liberalismus unterscheidet sich der Konstruktivismus also wesentlich durch die Auffassung, dass Interessen von Akteuren nicht vereinfachend als vorwiegend ökonomische Kosten-Nutzen-Kalküle aufgefasst werden können. Vielmehr werden Interessen durch die soziale Interaktion zwischen Akteuren erst »konstruiert«. Damit verfügen Akteure über ein weitaus reichhaltigeres Repertoire möglicher Handlungen und Verhaltensformen, weil sie sich nicht nur an Kosten-Nutzen-Kalkülen ausrichten müssen. Wie sie sich entscheiden und verhalten, hängt nicht nur von der Überlegung ab, welche materiellen Folgen ihr Verhalten hat (Logik der Konsequenz), sondern auch davon, ob und in welchem Maß andere Mitglieder der Gemeinschaft dieses Verhalten positiv beurteilen (Logik der Angemessenheit) (March/Olsen 1998).. Verhalten beruht nicht nur auf der Erwartung, Gewinne zu erzielen, sondern auch darauf, was als »richtig« oder »angemessen« betrachtet wird. Während eine Gewinnerwartung individuell und ohne Bezug zum sozialen Umfeld ermittelt werden kann, beruht die Beurteilung von richtigem oder falschem Verhalten auch auf dem Urteil anderer Akteure. Daher gewinnt das soziale Umfeld von Akteuren maßgeblich Einfluss darauf, was als Interesse angenommen wird.
Definition
Die Logiken der Konsequenz und Angemessenheit
Akteure können in ihrem Verhalten entweder der Logik der Konsequenz oder der Logik der Angemessenheit folgen. Die rationalistische Logik der Konsequenz bedeutet, dass Akteure ihr Verhalten an der materialistischen Kosten-Nutzen-Erwartung ausrichten. Die konstruktivistische Logik der Konsequenz bedeutet, dass Akteure ihr Verhalten an sozialen Normen über »richtig» und »falsch« orientieren. Diese Normen gelten in sozialen Gemeinschaften als verbindlich. Es sind solche sozialen Normen, mit denen die Akteure sich identifizieren.
Hinzu kommt, dass auf diese Weise sozial konstruierte Interessen nicht wie wirtschaftliche Gewinnerwartungen ewige Gültigkeit beanspruchen können. Vielmehr erlaubt der stetige Prozess sozialer Interaktion, dass sich Vorstellungen von »richtig« oder »falsch« im Laufe der Zeit ändern oder sich sogar ins Gegenteil verkehren.15
Dynamik von Wertewandel
Identität und Abgrenzung
Allerdings werden die Vorstellungen davon, was richtig oder angemessen ist, nicht von allen Menschen geteilt. Es gibt kaum universell gültige Werte. Akteure bilden vielmehr Gemeinschaften, die u. a. auf gemeinsamen Werten beruhen, mit denen sich Gemeinschaften jedoch auch gegen andere Gemeinschaften abgrenzen. Zwischen dem »Wir« und den »Anderen« entsteht durch Gemeinschaftsbildung eine unsichtbare Grenze. Sie beruht maßgeblich darauf, dass Mitglieder einer Gemeinschaft nicht nur gemeinsame Werte — Vorstellungen von »gut «und »böse« von »richtig« und »falsch« — teilen, sondern auch darauf, dass sie diese Vorstellungen durch gelebte Praxis immer wieder neu als gemeinschaftsbildend erneuern. Teil dieser gelebten Praxis ist dabei auch die Abgrenzung zu anderen Gemeinschaften, indem man weder deren Werte noch deren gemeinschaftsbildende Praktiken akzeptiert oder gar selbst praktiziert.
Zivilisationskampf oder …
… globale Ökumene