Geschichte der USA. Anke Ortlepp

Geschichte der USA - Anke Ortlepp


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Fabriken entstand. Hier wurden nun gut zwei Drittel aller heimischen Industriegüter erzeugt, und der Wert der Produktion stieg in den beiden Jahrzehnten von 500 Millionen auf 2 Milliarden Dollar. Die Ausbreitung des FabriksystemsArbeiter signalisierte den Übergang vom „Händler-Kapitalismus“ des frühen 19. Jahrhunderts zum Industriekapitalismus, der in EnglandGroßbritannien bereits weiter fortgeschritten war. Der amerikanische Erfolg ergab sich aus einer Kombination von arbeitskräftesparenden Innovationen und Ausbeutung der im Übermaß vorhandenen natürlichen Ressourcen. Die Dampfkraft, durch Kohle erzeugt, ersetzte allmählich die traditionelle Wasserkraft; beim Kanal- und EisenbahnbauEisenbahnAntebellum lernten die Amerikaner, Werkzeuge und Maschinen zu verbessern und Ersatzteile zu standardisieren. Einen Rückstand gegenüber EnglandGroßbritannien gab es vor allem noch auf dem Gebiet der Eisenproduktion, wo weiterhin Importe aus Europa nötig waren.

      Bis zur Jahrhundertmitte verband eine zunehmend komplexe und diversifizierte WirtschaftWirtschaft den NordostenNordosten und den Mittleren WestenMittlerer Westen, zwei Regionen, die sich gut ergänzten und wechselseitig zu erhöhter Aktivität anspornten. Zwar war der Norden insgesamt noch überwiegend agrarisch geprägt, aber der Strukturwandel zur industriellen Gesellschaft zeichnete sich schon deutlich ab: Der Anteil der in der LandwirtschaftLandwirtschaftKommerzialisierung (1. Hälfte 19.Jh.) beschäftigten Amerikaner, der 1820 noch bei 80 Prozent gelegen hatte, ging bis 1850 auf 55 Prozent zurück. Um diese Zeit verdienten immerhin schon 14 Prozent der arbeitenden Bevölkerung ihren Lebensunterhalt in Fabriken, und die Zahl der Menschen, die in Städten mit über 10.000 Einwohnern lebten, näherte sich der 5-Millionen-Grenze. Das Wachstum des inneren Marktes ging einher mit der Expansion des Außenhandels, den Neuengländer und New Yorker YankeesYankee nun bereits weltumspannend betrieben. Große Hoffnungen richteten sich auf den asiatischen Markt, den die amerikanische Regierung durch Verträge mit ChinaChina (1844) und JapanJapanHandelsvertrag von 1855 (1855) zu „öffnen“ hoffte. Das religiöse Moment spielte dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle, denn die Kaufleute folgten häufig den protestantischen Missionaren, die erste Kontakte mit fremden Völkern knüpften.

      Expansion und Kommerzialisierung bestimmten auch das Bild des Südens, allerdings auf eine ganz eigene Weise. In den Küstenstaaten des oberen Südens – VirginiaVirginia, MarylandMaryland, DelawareDelaware –, wo die ausgelaugten Böden eine Umstellung von Tabak- auf Weizenanbau erforderlich machten, war wenig Dynamik zu verspüren. Durch den steigenden Bedarf der Textilindustrien in EnglandGroßbritannienWirtschaftsbeziehungen und im amerikanischen NordostenNordosten gewann nun die plantagenmäßige Baumwollproduktion überragende Bedeutung. Das Anbaugebiet und damit auch das System der Sklavenarbeit dehnte sich rasch von South CarolinaSouth Carolina und GeorgiaGeorgia über das Mississippi-DeltaMississippi (Fluss) bis nach TexasTexas aus, und der SüdwestenSüdwesten wurde zur eigentlichen Wachstumszone. Tabak, Reis und Zuckerrohr verschwanden nicht völlig aus der Landschaft, aber King Cotton herrschte unumschränkt als das mit weitem Abstand wichtigste Ausfuhrprodukt. Zwischen 1820 und 1860 verzehnfachte sich der Export von 500.000 auf 5 Millionen Ballen. Bis dahin brachte der Verkauf von BaumwolleBaumwolle rund zwei Drittel des Gesamterlöses ein, den die USA im Außenhandel erzielten. Wichtigste Abnehmer blieben die EngländerGroßbritannienWirtschaftsbeziehungen, die auch ihre traditionelle Funktion als Kreditgeber für die Plantagenbesitzer beibehielten. Die Baumwollpflanzer handelten durchaus als Unternehmer, die gewöhnt waren, in den Marktkategorien von Wettbewerb, Investition, Gewinn, Angebot und Nachfrage zu denken. Sklaven betrachteten sie zugleich als Arbeitskräfte und Kapital, d. h. als eine „Ressource“, die im Zuge des Baumwollbooms knapp und teuer wurde. Rein ökonomisch gesehen, hatte sich die SklavereiSklaverei (s.a. Afroamerikaner) keineswegs „überlebt“, sondern versprach weiterhin hohe Profite. Entsprechend wuchs der Druck der Pflanzer auf die Staatenregierungen und den Kongress, die 1808 verbotene Sklaveneinfuhr wieder zu legalisieren. Da sich die Baumwollerzeugung nur durch Vergrößerung der Anbaufläche steigern ließ, werteten die Pflanzer alle Versuche, die SklavereiSklaverei (s.a. Afroamerikaner) territorial einzugrenzen, als Beeinträchtigung ihrer Zukunftschancen. Insgesamt herrschte noch der Eindruck ungebrochener Prosperität vor, und selbst die Mehrzahl der Farmer, die wenige oder keine Sklaven besaßen, wurde in den Prozess der Kommerzialisierung einbezogen. Andererseits blieb der Aufbau von Industrien im SüdenSüden gerade wegen des monokulturellen Charakters der Baumwolle in den Anfängen stecken. Aus heutiger Sicht erkennt man, was den meisten Zeitgenossen verborgen blieb: dass die WirtschaftWirtschaft des Südens zwar wuchs, sich aber nicht – im Sinne einer Modernisierung – entwickelte. Dadurch geriet die Region in Abhängigkeit vom Weltmarkt (auf dem Baumwolle vorerst noch gute Preise erzielte) wie von den Bankiers und Kaufleuten aus dem Norden, die Binnenhandel und Küstenschifffahrt kontrollierten.

      Sozialer Wandel und ReformbewegungenReformbewegungen im Norden

      Das Vordringen marktwirtschaftlicherWirtschaft Strukturen bis an die FrontierFrontier und die beginnende IndustrialisierungIndustrialisierung und UrbanisierungUrbanisierung erzeugten Spannungen, die sich in den Wachstumszonen des Nordens besonders deutlich bemerkbar machten. Schrankenloser Egoismus drohte den Respekt für Ordnung und Stabilität zu zerstören, der Geist des Wettbewerbs nahm wenig Rücksicht auf die Schwachen und Außenseiter, und das Streben nach Glück und Besitz prallte mit dem republikanischen Ideal einer gerechten GesellschaftGesellschaftAntebellum zusammen. In dieser Situation erwuchsen vornehmlich aus der Mittelschicht eine Reihe von Reforminitiativen, die dem wirtschaftlichenWirtschaft und sozialen Wandel moralische Richtung zu geben versuchten.

      Trotz der zyklischen Rezessionen, die vielfältige Ursachen hatten und von dem unzulänglichen amerikanischen Kreditsystem regelmäßig noch verschärft wurden, verzeichneten die USA ab 1800 ein durchschnittliches WirtschaftswachstumWirtschaft von einem Prozent pro Jahr. Hinsichtlich des Pro-Kopf-Einkommens und des allgemeinen Lebensstandards lagen die Amerikaner damit bereits 1860 vor den Bürgern der westeuropäischen Staaten. Der Zuwachs an Wohlstand kam jedoch den einzelnen Bevölkerungsgruppen – selbst wenn man IndianerNative AmericansAntebellum, Sklaven und freie Afroamerikaner unberücksichtigt lässt – keineswegs gleichmäßig zugute. Auf der einen Seite setzte sich, speziell in den Städten, die Konzentration des Reichtums fort (1860 verfügten 10 Prozent der Bevölkerung über zwei Drittel des nationalen Vermögens), während am entgegengesetzten Ende der sozialen Leiter die Zahl der besitzlosen Tagelöhner und ArbeiterArbeiter zunahm. Zwischen diesen Extremen formierte sich aber eine breite Mittelschicht aus erfolgreichen Farmern und städtischem Bürgertum, deren Wertmaßstäbe, Ideologien und Weltsicht in hohem Maße den „amerikanischen Charakter“ prägten.

      Auf die Erfahrung des sozialen Wandels reagierte die Bevölkerung ambivalent: Fasziniert von den Möglichkeiten, die das Neue bot, litten viele Menschen doch unter dem Verlust der traditionellen Werte und sorgten sich um eine ungewisse Zukunft. Das traf vor allem auf die Handwerkerschaft zu, deren Status und Selbstbewusstsein durch das Aufkommen von Maschinen und FabrikarbeitArbeiter gefährdet waren. Gegen das vordringende marktwirtschaftliche System hielten Handwerker und Gesellen am beharrlichsten das Ideal des RepublikanismusRepublikanismus hoch, den Glauben, dass jeder Bürger Anspruch auf politische Mitsprache und wirtschaftlicheWirtschaft Unabhängigkeit habe und dass er entsprechend seinen individuellen Leistungen bezahlt werden müsse. Aus den Handwerkervereinigungen gingen die ersten GewerkschaftenGewerkschaften hervor, die sich 1834 zur National Trades’ UnionNational Trades’ Union zusammenschlossen. Die republikanische Ideologie verschwand also keineswegs aus dem öffentlichen Bewusstsein, sondern lieferte eine zumindest rhetorisch wirksame Waffe gegen die Kräfte der Marktwirtschaft und des Kapitalismus. Republikanisches Gedankengut erwies sich dabei als recht anpassungsfähig und wurde – von der Kritik staatlicher und privater Monopole über die Denunzierung „aristokratischer“ Politiker und Bankiers bis zur Verteidigung des Streikrechts – vielen Bedürfnissen gerecht.

      Aufs Ganze gesehen überwogen Optimismus und eine teils nüchternpragmatische, teils emotional-erwartungsvolle Haltung. Als Teilnehmer am Marktgeschehen lernten die Menschen zu kalkulieren und auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein, ohne dabei – von Einzelfällen abgesehen – die Bedürfnisse der Umgebung und das Gesamtwohl völlig aus den Augen zu verlieren. Die tägliche Erfahrung der – geographischen und sozialen – Mobilität, die Pioniersituation an der Siedlungsgrenze und eine Arbeitsethik,


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