Das qualitative Interview. Manfred Lueger

Das qualitative Interview - Manfred Lueger


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nötig ist.

      [24]Diese Phase ist abgeschlossen, wenn man den weiteren Zugang für die Analyse geregelt hat und über eine grobe Vorstellung über die Struktur des sozialen Systems verfügt. Bereits in diesem Schritt erfolgen die ersten grundlegenden Analysen der in den Einstiegsgesprächen gewonnenen Materialien, um den Übergang in die Hauptforschungsphase systematisch planen zu können.

      c)Die zyklische Hauptforschungsphase

      In der dritten Phase erfolgt der intensive, nunmehr explizit zirkulär angelegte Forschungsprozess. Die einzelnen Forschungszyklen verkörpern hierbei den Kerngedanken qualitativer Sozialforschung und treiben die inhaltliche und methodische Entwicklung des Forschungsprozesses voran. Das Grundprinzip ist, die Organisierung der Forschung möglichst mit den Strukturierungsleistungen des Feldes zu verkoppeln, um sich zumindest temporär und partiell der Logik des Feldes auszusetzen. Gleichzeitig erfordert die Auslegung des Materials immer wieder ein Zurücktreten hinter die eigenen Erfahrungen und die distanzierte Analyse des gesamten Forschungshandelns. Die Basiskomponenten dieser Phase reflektieren besonders deutlich die zentralen Elemente interpretativer Sozialforschung und die methodologischen Basisüberlegungen, nämlich (a) das unentwegte Ineinandergreifen von Erhebung und Interpretation; (b) die permanente Reflexion des Forschungsstandes auf inhaltlicher und methodischer Ebene; (c) die Abgrenzung von klaren Lehrbuchmethoden zugunsten einer flexiblen und variablen Gestaltung der Erhebungs- und Interpretationsverfahren; (d) die kontinuierliche sorgfältige Überprüfung und Modifikation der vorläufigen Ergebnisse; (e) die laufende Erstellung von vorläufigen Teilanalysen.

      Die Dynamik des Forschungsprozesses wird gleichsam entlang der kontinuierlichen inhaltlichen Entwicklung der Erkenntnisse über das soziale System und die während der Forschungsarbeit gesammelten methodischen Erfahrungen angetrieben. Dieser Entwicklungsprozess wird unterstützt durch aufbauende, aber dennoch voneinander relativ getrennte Analysezyklen, auf deren Basis über die methodische und inhaltliche Reorganisierung und Modifikation des jeweils nächsten Zyklus entschieden wird. Jeder Analysezyklus setzt sich hierbei aus Erhebungen, Interpretationen, die Prüfung der bisherigen Vermutungen (u. a. Kontrollinterpretationen durch andere Interpret*innen, Anwendung anderer Methoden; siehe Kap. 6) und die Bündelung der gewonnenen Erkenntnisse in Zwischenresümees zusammen. Die vorläufigen Ergebnisse helfen bei der systematischen und theoretischen Aufarbeitung des Wissens über das soziale System, unterstützen die methodische Kontrolle des Forschungsprozesses und die kritische Diskussion im Forschungsteam.

      In jedem Zyklus wird nur wenig Material systematisch analysiert (auch wenn deutlich mehr Material erhoben werden sollte). Das erfordert eine sorgfältige Auswahl des zu interpretierenden Materials aus dem Pool insgesamt verfügbarer Materialien und strategische Entscheidungen über eine möglichst sinnvolle Erhebung. In diesem Prozess übernehmen die Reflexionsphasen zwischen den Ana-[25]lysezyklen eine wichtige Unterbrechungsfunktion: In diesen wird eine inhaltliche und methodische Standortbestimmung durchgeführt, wobei anhand der spezifischen Stärken und Schwächen der eingeschlagenen Forschungsstrategie und der gewählten Verfahren über die weitere Vorgangsweise entschieden wird. Der Reflexionsprozess unterstützt die Entwicklung und Steuerung des Forschungsprozesses, durchleuchtet die Rahmenbedingungen der Forschungsdurchführung (etwa die Wechselwirkung zwischen Forschung und Gegenstandsbereich, teaminterne Kooperationsstrukturen, die Anwendbarkeit von Forschungsverfahren, die Bedeutung von externen und internen Erwartungshaltungen) und fördert den kontrollierten Aufbau von Wissensstrukturen bzw. theoretischer Konzeptionen durch immer wieder zu etablierende gewissenhafte Prüfverfahren.

      Dem theoretischen Sampling (vgl. Glaser/Strauss 2010: 61ff.) kommt hierbei als Auswahlstrategie für das neu einzubeziehende Material eine Schlüsselstellung zu. Im Rahmen des theoretischen Samplings wird die Durchführung und die Interpretation von Gesprächen (bzw. die Erhebung und Interpretation anderer Materialien) von zwei Entscheidungsprinzipien geleitet:

      •Das erste Prinzip besagt, dass man Materialien erheben bzw. analysieren sollte, die mit hoher Wahrscheinlichkeit geeignet sind, die bisherigen Annahmen zu widerlegen. Insofern begibt man sich auf die Suche nach Gesprächspartner*innen, die mutmaßlich entweder konträre Positionen vertreten oder ‚Grenzfälle‘ des sozialen Systems markieren. Diese Inklusion auf der Basis maximaler struktureller Variation bestimmt die Reichweite und Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse und klärt die Grenzen und Spezifika einer theoretisierenden Argumentation.

      •Das zweite Prinzip besagt, dass man Materialien der Analyse verfügbar machen sollte, die mit hoher Wahrscheinlichkeit die bisherigen Ergebnisse bestätigen. Mit dieser Strategie begibt man sich auf die Suche nach vergleichbaren Fällen und spricht mit Personen, deren Aussagen vermutlich zu ähnlichen Analyseergebnissen führen. Diese Inklusion auf der Basis der Unterschiedsminimierung dient der Prüfung bisheriger Annahmen. Dadurch versucht man Unschärfen der theoretisierenden Argumentation aufzuspüren, indem man genau jenen Bereich fokussiert, der mit den bisherigen Analysen bereits abgedeckt sein müsste. Identifiziert man dabei neue oder widersprüchliche Erkenntnisse, so deutet dies auf Probleme der Theoriekonstruktion hin, was eine genauere Erforschung spezifischer Teilbereiche bzw. die Modifikation der Ergebnisse erzwingt.

      Dieser schrittweise Einbezug neuer Materialien in die Analyse wird so lange fortgesetzt, bis sich die Interpretationen stabilisieren und weitergehende Analysen (nach dem Prinzip der maximalen Variation) keine neuen Erkenntnisse mehr bringen. Unter dieser Bedingung bezeichnet man die gewonnene theoretische Argumentation als gesättigt. Ab diesem Zeitpunkt würde der Aufwand [26]weiterer Analysen den daraus zu ziehenden Erkenntnisgewinn beträchtlich übersteigen.

      Für die Analyse mittels Forschungsgespräche bedeutet dies, sich zumindest am Ende eines jeden Analysezyklus mit folgenden Fragen zu befassen:

      •Welche Erkenntnisse hat man bisher gewonnen und welche Lücken oder Unklarheiten lassen sich identifizieren?

      •Welche Strategien in der Auswahl der Gesprächspartner*innen eignen sich zur Beseitigung dieser identifizierten Analysedefizite?

      •Welche Modifikationen in der Gesprächsführung sind dafür erforderlich?

      •Inwiefern könnte die Art der Gesprächsführung die spezifischen Ergebnisse beeinflusst haben und wie lassen sich daraus resultierende mögliche Einseitigkeiten beseitigen?

      •Sind außer der Gesprächsanalyse eventuell andere Analyseverfahren zur adäquaten Bearbeitung der Forschungsanforderungen notwendig?

      •Sind die Mitglieder des Forschungsteams adäquat eingesetzt und gewährleisten sie sowohl die Anschlussfähigkeit zu den einzelnen Teilbereichen des untersuchten sozialen Systems als auch die Sicherung der Interpretationsqualität oder sind Umstrukturierungen im Team erforderlich?

      d)Die Ergebnisdarstellung

      Ohne Kommunikation der Erkenntnis leistet auch die brillanteste Untersuchung weder einen Beitrag zur Wissenschaft noch einen zur gesellschaftlichen Entwicklung. Sozialwissenschaftliche Forschung muss daher anschlussfähig zu relevanten Bezugskollektiven gehalten werden. Berichte machen Ergebnisse zugänglich und setzen sie dadurch einer kritischen Rezeption aus. Für Forschungsarbeiten sind (neben der Gesellschaft allgemein) Angehörige des konkreten Untersuchungsfeldes (bzw. auch Auftraggeber*innen) und das Wissenschaftssystem primäre Adressat*innen. Speziell Letzteres zeichnet sich durch sein spezifisches (intern differenziertes) Erkenntnisinteresse aus und erhebt besondere Ansprüche an die Vertrauenswürdigkeit der Ergebnisse. Folglich stellt sich hier die Aufgabe, die Thematik, die Vorgangsweise und das erlangte Wissen systematisch zu erläutern und Hinweise zu geben, die künftige Forschungsarbeiten auf ähnlichen Gebieten erleichtern. Das aus dem Produkt erwachsende Verständnis des Untersuchungsbereichs und die Anregung des Wissenschaftssystems sind die substantiellen wissenschaftlichen Leistungen (siehe Abschnitt 6.2). In diesem abschließenden Schritt lassen sich zwar keine Anforderungen an die Durchführung und Analyse von Gesprächen ableiten, jedoch an die Präsentation der aus diesen gewonnenen Erkenntnisse. Dabei sind folgende Fragen zu


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