Die Beobachtung als Methode in der Kommunikations- und Medienwissenschaft. Volker Gehrau

Die Beobachtung als Methode in der Kommunikations- und Medienwissenschaft - Volker Gehrau


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Runde werden so gleichzeitig drei Bände publiziert: Die Beobachtung in der Erziehungswissenschaft (van Ophuysen, Bloh & Gehrau 2017), Die Beobachtung in der Kommunikations- und Medienwissenschaft (Gehrau 2017) sowie Die Beobachtung in der Soziologie (Weischer & Gehrau 2017). Die gemeinsame Arbeit an den Büchern führte uns einerseits immer wieder vor Augen, wie stark die theoretische und methodische Einbettung der Beobachtung in und zwischen den jeweiligen Disziplinen variiert. Andererseits wurde deutlich, wie inspirierend der Blick über den Tellerrand des eigenen Faches sein kann. Um dieser Vielfalt gerecht zu werden, haben wir uns dafür entschieden, alle Variationen gleichberechtigt zu diskutieren. Dies impliziert, dass durchaus Aspekte vorgestellt werden, die in der jeweiligen Disziplin von eher untergeordneter Bedeutung sind, wohingegen andere Aspekte, die sonst klar im Zentrum stehen, hier vergleichsweise kurz angerissen werden. Das mag zu Unzufriedenheit in einzelnen Bereichen führen, soll aber anregen, auch über alternative Beobachtungsvarianten nachzudenken, auch wenn sie in der jeweiligen Disziplin bislang (noch) nicht realisiert wurden.

      Entscheidung 2: Quantitatives versus Qualitatives Paradigma. Mit dem vorliegenden Buch wird der Versuch unternommen, qualitative und quantitative Beobachtungsansätze gleichberechtigt darzustellen. Bislang haben alle uns bekannten Darstellungen einen klaren Fokus, oft wird sogar ausschließlich eine Variante diskutiert. Das ist insofern verständlich, als sich beide Varianten grundlegend unterscheiden und viele (Teil-) Disziplinen nahezu ausschließlich nach einer Variante vorgehen. Der interdisziplinäre Ansatz der vorliegenden Buchreihe sowie der Anspruch der beteiligten Autorinnen und Autoren machen es aber erforderlich, beide Varianten möglichst angemessen zu präsentieren. Die vorliegende Fassung ist der erste Versuch, diesem hohen Anspruch gerecht zu werden. Ob dies gelungen ist, mögen die Leserinnen und Leser entscheiden. So werden in dem Buch fast durchgängig Beispiele und Besonderheiten sowohl qualitativer als auch quantitativer Zugänge nebeneinander vorgestellt. Lediglich im dritten Kapitel werden zunächst die typischen Schritte und Entscheidungen qualitativer Beobachtungsstudien beschrieben und anschließend die typischen Schritte und Entscheidungen quantitativer Beobachtungsstudien. So können Leserinnen und Leser, die sich nur für eine der beiden Varianten interessieren, deren Durchführung in unterschiedlichen Spielarten kennenlernen, ohne die jeweils andere zur Kenntnis nehmen zu müssen. Nichtsdestotrotz ist es unseres Erachtens für alle anregend, sich auch mit der jeweils anderen Variante vertraut zu machen.

      Entscheidung 3: Wege der Vermittlung. Wissen über Beobachtung als Methode der Datenerhebung kann über drei verschiedene Wege vermittelt werden: (1) über die Darstellung der methodischen Besonderheiten wissenschaftlicher Beobachtungen, (2) über die Darstellung der Anforderungen bei der praktischen Durchführung von Beobachtungsprojekten oder (3) über die Darstellung exemplarischer Beobachtungsstudien in einem Fach. Die Kapitel zwei bis vier des vorliegenden Buches sollen alle drei Zugänge ermöglichen, und zwar in einer Darstellungsweise, die auch in anderer als der hier vorgeschlagenen Reihenfolge verständlich sein sollte. Insofern ist es den Leserinnen und Lesern überlassen, wie sie in das Thema einsteigen möchten. Die drei Kapitel unterscheiden sich auch deutlich in ihrem Rückgriff auf einschlägige Literatur. So wird in Kapitel zwei (Methode) auf die für die Beobachtung relevante Methodenliteratur verwiesen und zwar insbesondere auf solche, die disziplinübergreifend wichtig erscheint. Da bestimmte Disziplinen besondere methodische Anforderungen an die Beobachtung stellen, wird an entsprechenden Stellen aber auch mit fachspezifischen Methodenbüchern gearbeitet. Hingegen folgt das Kapitel drei (Praktische Durchführung) eher der Logik eines Tutorials, in dem unterschiedliche Varianten, Wege und dazugehörige Entscheidungen aufgezeigt werden. Dieses Kapitel verbleibt ohne zusätzliche Literaturhinweise, da es weitgehend auf Ideen aus der Literatur des vorherigen Kapitels zurückgreift. Um die Lesbarkeit zu fördern und um den Fokus nicht auf einzelne Positionen und Vorlieben bei der Beobachtung zu verengen, wurde bewusst ohne Einzelverweise gearbeitet. Im abschließenden vierten Kapitel (Exemplarische Studien) liegt der Fokus auf der fachspezifischen Anwendung wissenschaftlicher Beobachtungen. Dies erfolgt weitgehend anhand der Darstellung publizierter empirischer Studien aus der jeweiligen Disziplin, in der jeweils fachtypische Fragestellungen untersucht werden.

      Wir hoffen, uns mit den skizzierten Entscheidungen nicht gänzlich zwischen die Stühle gesetzt zu haben und bei den Leserinnen und Lesern Interesse an der Beobachtung zu wecken und relevantes, anwendbares Wissen über diese zu vermitteln.

      Münster, Sommer 2017

      Bea Bloh, Volker Gehrau, Stefanie van Ophuysen und Christoph Weischer.

      1 Einleitung

      „Wie geht's?“ Diese Frage stand hinter einem Beobachtungsverfahren, das Bestandteil der Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel (1933/1975) war. Die Forschergruppe hatte das Ziel, die Auswirkung der hohen Arbeitslosigkeit auf die Befindlichkeit der Bewohnerinnen und Bewohner Marienthals Anfang des 20. Jahrhunderts zu untersuchen. Dabei verwendeten sie ganz unterschiedliche Datenerhebungsverfahren. Sie beobachteten z.B., wie die Bewohner von Marienthal einen öffentlichen Platz überquerten. Die so erhobenen Daten förderten ein Bild einer müden Gesellschaft zutage, in der es kaum Antrieb und Hoffnung gab, und die gleichzeitig durch einen doppelten Zeitverlauf gekennzeichnet war. Als Maß dafür diente einerseits die Gehgeschwindigkeit – Frauen gingen deutlich schneller als Männer – und andererseits die Häufigkeit des Stehenbleibens. Männer blieben öfter stehen als Frauen. Die Männer hatten durch die Arbeitslosigkeit die Zeitstruktur verloren – die Zeit verging für sie, ohne dass Wichtiges geschah. Bei den Frauen strukturierte demgegenüber die Arbeit für Haus und Familie noch einen Großteil des Lebens – ihre Zeit war verarbeitete Zeit (Jahoda, Lazarsfeld & Zeisel 1933/1975 sowie Diekmann 1995: 459–466). Mit einer klassischen Befragung hätte man wahrscheinlich eher geschönte Auskünfte über die Befindlichkeit der Menschen in Marienthal erhalten; so wie bei den typischen Antworten auf die Frage: „Wie geht's?“

      Ähnlich wie die Forscherinnen und Forscher in der Marienthal-Studie beobachten auch Menschen im Alltag ihr Umfeld und insbesondere die darin agierenden Personen, um alltagsrelevante Informationen zu erhalten. Die zur Informationsgewinnung im Alltag genutzten Vorgehensweisen gehen jedoch über das Beobachten hinaus. Sie lassen sich grob in drei Bereiche einteilen, wobei die Grenzen unschärfer sind als hier idealtypisch dargestellt. Ausgangspunkt des Illustrationsbeispiels sei eine Person, die auf einen Platz in einer größeren Stadt kommt, dort eine Gruppe von Menschen vorfindet, die auf ungewöhnliche Art miteinander interagieren. Sie möchte verstehen, was die Gruppe macht. Dazu wird sie vermutlich zunächst stehenbleiben und zuschauen, was die Menschen in der Gruppe tun. Wenn das zu keinem befriedigenden Resultat führt, wird die Person wahrscheinlich jemanden fragen, was die Gruppe macht. Wenn auch das nicht die gewünschte Erkenntnis bringt, wird sie eventuell noch versuchen, Informationen über aktuelle Veranstaltungen oder über den Ort zu recherchieren, um herauszufinden, was dort gerade passiert. In diesem Beispiel werden drei Arten der alltäglichen Informationsbeschaffung genannt, die sich in ähnlicher Weise als Methoden der wissenschaftlichen Datenerhebung wiederfinden lassen. Dem Geschehen zuzusehen ähnelt der wissenschaftlichen Beobachtung, mit Menschen zu reden, um von diesen bestimmte Informationen zu erhalten, entspricht der Grundidee wissenschaftlicher Befragungen, und die Suche von Informationen in Texten zum interessierenden Phänomen weist Parallelen zur wissenschaftlichen Inhaltsanalyse auf.

      Wenngleich sich die wissenschaftlichen Datenerhebungen mittels Beobachtung, Befragung und Inhaltsanalyse durchaus deutlich von den angesprochenen Alltagspraktiken unterscheidet (die wissenschaftliche Beobachtung ist insbesondere systematisch angelegt und dokumentiert ihr Vorgehen ebenso wie ihre Ergebnisse) sind die Grundlogik des jeweiligen Vorgehens und die dabei auftretenden Probleme dennoch ähnlich gelagert. Diese entstehen bei der Gewinnung der nötigen Angaben (Können diese überhaupt erlangt werden?) und deren Interpretation (Können aus diesen die nötigen Informationen gezogen werden?). Aus der Analogie zwischen wissenschaftlicher Datenerhebung und alltäglichem Problemlösen lassen sich also nicht nur die grundlegenden Verfahren Beobachtung, Befragung und Inhaltsanalyse ableiten, sondern auch ihre Besonderheiten.

      Eine Einschränkung der Beobachtung ist weitreichend: Es können nur Sachverhalte beobachtet werden, die sich beobachten lassen, also sinnlich oder apparativ von außen feststellen lassen. Dinge, die im Privaten, Geheimen


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