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Christentum1 und sie endet nicht an den Grenzen christlicher Konfessionen und Denominationen. Seelsorge ist ein Phänomen menschlicher Kommunikation und wie diese zeit- und situationsabhängig. Wo Menschen bewusst miteinander leben, wird sich auch mehr oder weniger wahrnehmbar so etwas wie „Seelsorge“ ereignen. Menschen sind ja in ihrer inneren und äußeren Lebensgestaltung nie völlig festgelegt, sie sind weder völlig determiniert noch primär hormon- oder instinktgesteuert. Sie aber sind steuerbar, von außen durch Erziehung und Bildung, durch konkrete Lebensumstände, von innen her: durch Überzeugungen und Einstellungen und darin nicht zuletzt durch die Regungen ihrer Seele.

      Die Seele ihrerseits ist keine von den geschichtlichen Veränderungsprozessen unabhängige Instanz des menschlichen Daseins.2 Zwei Merkmale ihres Wesens sind im jetzigen Zusammenhang von Bedeutung:

      •Einmal: „Seele“ eine anthropologische Konstante. Es gehört zur menschlichen Person, eine Seele zu „haben“. Aber man darf sich dessen nicht zu sicher sein. Wer seine Seele „verloren“ hat, ist bodenlos unglücklich, weil etwas Wesenhaften beraubt. Wer seelen-los handelt, wirkt unmenschlich und ist es wohl auch. Die „Seele“ hat etwas zu tun mit Offenheit und Empfänglichkeit, mit Sensibilität und Gewissen, mit Gottesgegenwart und Liebe. Die Seele kann nicht wirklich verloren gehen, aber sie kann „zugeschüttet“ werden. Die Seele ist gefährdet, man muss auf sie achten.

      •Zum Andern: Die Seele ist beeinflussbar und bildbar. Sie kann gestärkt und sie kann gebeugt werden. Ihr kann Leid zugefügt werden. Man kann auf fremden Seelen „herumtrampeln“ und man kann schließlich die eigene Seele „verkaufen“, in der Regel eher erzwungenermaßen als freiwillig. Das bedeutet auch, dass die Seele geschichtlichen Einflüssen ausgesetzt und manchmal auch ausgeliefert ist.

      Mit diesen Beobachtungen soll nur angedeutet werden, dass die „Seele“ selbst geschichtlich in dem Sinne ist, dass die Signaturen der Zeit in ihr Spuren hinterlassen. Die Seele eines mittelalterlichen Gläubigen regte sich anders als die eines modernen Christen. So liegt es im „Gegenstand“ der Seelsorge selbst begründet, dass sie als „Arbeit“ an und mit der „Seele“ geschichtlich ist. Konkret haben darunter verschiedene Generationen durchaus Verschiedenes verstanden. Dabei beziehen sich die Unterschiede sowohl auf das Verständnis dessen, was für die Seele eines Individuums gut sei und was nicht, wie auch auf die Wege, die zum Menschen und zum Heil und Wohl seiner Seele einzuschlagen wären.

      Die Einsicht in die Geschichtlichkeit von Seelsorge ist eine Voraussetzung für das Verstehen der variierenden Gestaltungen seelsorglichen Handelns in den verschiedenen Epochen der Kirchengeschichte.3 Und sie ist wichtig im Blick auf die eigene Seelsorgepraxis und Seelsorgelehre in der Gegenwart.4 Die Wahrnehmung der Geschichtlichkeit von Seelsorge erschließt eine Fülle von Reichtümern, Anreizen und vielleicht auch Provokationen. Sie führt ins Nachdenken, aber sie gebietet auch Zurückhaltung gegenüber einem normativen Seelsorgebegriff. Kein Handlungsfeld der Praktischen Theologie verfügt über einen so offenen Horizont wie die Seelsorge – zwischen Kirchenzucht und Therapie, Freundesgespräch und Beichte, Glaubenshilfe und Lebensberatung. Das ist die Stärke der christlichen Seelsorge und manchmal auch ihr Problem.

      Die Bibel in der Seelsorge

      Es gibt drei zu unterscheidende Beziehungsmöglichkeiten zwischen Bibel und Seelsorge: Seelsorge der Bibel, Seelsorge mit der Bibel und Seelsorge in der Bibel. Nur der dritte Aspekt gehört streng genommen in die historische Poimenik und wird uns im nächsten Abschnitt beschäftigen. Mit den anderen beiden Formulierungen soll die fundamentale Bedeutung der Bibel für die Seelsorge zum Ausdruck gebracht werden. Dazu soll an dieser Stelle schon so viel gesagt werden:

      Grundlegend für ein theologisches Verständnis von Seelsorge ist, dass das Zeugnis des Alten und Neuen Testaments im Ganzen als Urkunde von der Seelsorge Gottes an den Menschen verstanden wird. In dem Sinne sprechen wir von der Seelsorge der Bibel. Gott ist ein seelsorglicher Gott, der Israel durch die Höhen und Tiefen seiner Geschichte führt (Ex 20,2f.) und der in Jesus Christus seine Liebe zu allen Menschen offenbar gemacht hat (Joh 3,16). Ihn bezeugt die Bibel in unterschiedlichen Variationen von ihrer ersten bis zu ihrer letzten Seite. Seine Zuwendung zur Welt und zum einzelnen Menschen ist Ausgangs- und Zielpunkt evangelischer Seelsorgelehre.

      Gottes liebendes Wesen und sein menschenfreundliches Handeln – das ist die Seelsorge vor aller Seelsorge. Sein Wille, „dass allen Menschen geholfen werde“ (1 Tim 2,4), ermöglicht Seelsorge im theologischen Sinne.

      Die „Seelsorge der Bibel“ gehört in den Zusammenhang der Theologie der Seelsorge und muss dann an ihrem Ort noch einmal aufgenommen werden. Dagegen hat es die Seelsorge mit der Bibel viel stärker mit der Praxis der Seelsorge zu tun. Deshalb mögen auch hier ein paar erste Hinweise genügen:

      Die Bibel ist auch in praktischer Hinsicht ein seelsorgliches Buch von Anfang bis Ende. Es gilt immer wieder, sie als ein Reservoir von Texten für die Seelsorge zu entdecken. Zu denken ist hier vor allem an die bedeutende Rolle, welche die Psalmen für das Glaubensleben der Gemeinde und der Einzelnen spielten und noch spielen. Sie sind neben anderen Texten ganz besonders so etwas wie eine „Sprachhilfe des Glaubens“5 – gerade für die Not- und Krisenzeiten des Lebens, aber auch zur Artikulation von Dankbarkeit und Freude. Im Alten Testament haben das Buch Hiob wie Texte aus der weisheitlichen Tradition und aus Jesaja und Jeremia besondere Bedeutung als seelsorgliche Ausdruckshilfen.

      Eine Seelsorge mit der Bibel geschieht nicht primär über Auslegung oder Verkündigung, sondern so, dass ein Text zum rechten Zeitpunkt (Kairos!) in eine konkrete Situation hineingesprochen wird. Viele Texte des Neuen Testaments, vorab die Bergpredigt Jesu (Mt 5–7), die Abschiedsreden im Johannesevangelium (Joh 14–17), einzelne Briefabschnitte wie etwa aus dem Römer- und dem 2. Korintherbrief vermögen in der gegebenen Situation eine ganz unmittelbare seelsorgliche Wirkung zu erzielen. Biblische Texte können dann eine Sprachebene anbieten, auf der einerseits die konkrete Befindlichkeit eines Menschen „eingelesen“ werden kann und von der aus andererseits der Horizont so erweitert wird, dass er neue Lebenseinsichten, Hoffnungen und Lebensperspektiven erschließen hilft.6 Es ist eine wichtige Aufgabe und es hat einen guten Sinn, wenn heute Poimeniker versuchen, die Bibel stärker für die Seelsorge ins Gespräch zu bringen.7

      Methodisch sind dafür unterschiedliche Möglichkeiten denkbar. Neben dem Bibelzitat im Gespräch oder dem betenden Mitvollzug wäre an die verschiedenen Spielarten eines eher meditativen Textzugangs8 zu denken. Aber auch verschiedene Formen erlebnisnaher Bibelarbeit9 bis hin zum Bibliodrama10 kommen hier in Betracht. Stets geht es darum, einen biblischen Text möglichst unmittelbar für die Bewältigung einer aktuellen Situation des Einzelnen oder einer Gruppe zu gewinnen und ihn dafür fruchtbar werden zu lassen. Dass die Seelsorge mit der Bibel theologischer Sorgfalt und Verantwortlichkeit bedarf, versteht sich von selbst. Texte dürfen nicht gegen ihren ursprünglichen Sinn verwendet werden. Ich muss mir als Seelsorger darüber im Klaren sein, dass kein Text der Bibel auf ein heute bestehendes Problem unmittelbar reagiert. Aber es gibt doch analoge Situationen zwischen damals und heute (z.B. Erfahrungen von Krankheit und Anfechtung, von Unrecht und Schuld, von Traurigkeit und Zweifel), die es durchaus nahe legen, einen ‚alten‘ Text auf eine gegenwärtige Konfliktlage zu beziehen. Für die seelsorgliche Arbeit mit der Bibel ist hermeneutisches Bewusstsein notwendig, das die historische Differenz nicht biblizistisch negiert. Sonst kommt es leicht zu Trugschlüssen und Enttäuschungen. Freilich sollte der notwendige Respekt gegenüber historisch-kritischer Auslegungsarbeit nicht zum Verzicht auf biblische Sprache in der Seelsorge führen, sondern zu angemessenen Gebrauch inspirieren.

      Seelsorge in der Bibel

      Im Zusammenhang der Seelsorgegeschichte geht es nun natürlich vor allem um die Seelsorge in der Bibel. Findet sich in den Schriften des Alten und Neuen Testaments der Niederschlag einer kommunikativen Praxis, die wir Seelsorge nennen könnten? Es ist nicht leicht, darauf eine im historischen Sinne exakte Auskunft zu geben.11

      Zum einen muss eingeräumt


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