Grundfragen der Sprachwissenschaft. Peter Schlobinski

Grundfragen der Sprachwissenschaft - Peter Schlobinski


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mehr Sprachen als viele andere Akademiker auch, und die meisten Spitzenschachspieler sind ihnen in der Sprachenkompetenz wohl überlegen wie der in Reggio Emilia geborene Enrico Paoli (1908–2005). Der italienische Ehrengroßmeister war ›paoliglott‹ und sprach neben seiner Muttersprache weitere neun Sprachen, er kann allerdings nicht mit dem Dolmetscher und Chinesischexperten Emil Krebs (1867–1930) konkurrieren, der 68 Sprachen beherrschte. Viele Schachspieler wären vielleicht auch gute Sprachwissenschaftler geworden, sie sind aber nun mal Schachspieler und keine Sprachwissenschaftler. (Das Schachspiel ist ein bei Sprachwissenschaftlern beliebtes Spiel, auf das immer wieder metaphorisch zurückgegriffen wird.)

      Was also macht ein Sprachwissenschaftler, wenn er keine beeindruckende Anzahl von Sprachen spricht? Er untersucht einzelne Sprachen und Sprachvarianten bzw. das, was menschliche Sprache überhaupt ausmacht. Die originäre Aufgabe eines Sprachwissenschaftlers ist es, Wesen und Erscheinungsformen von Sprache zu beschreiben und zu erklären. Womit er sich auch immer im Einzelnen beschäftigt, es sind fünf grundlegende und etablierte Teilgebiete, die sein Arbeitsgebiet und das Fach Sprachwissenschaft strukturieren. Zum Ersten ist es die Phonetik/Phonologie (gr. phōn

›Stimme, Klang, Laut, Ton‹), die sich mit der Art der Sprachlaute, ihren physikalischen Eigenschaften (Phonetik) bzw. mit ihrer Funktion in den einzelnen Sprachen (Phonologie) beschäftigt. Die Morphologie (gr. morphé ›Gestalt‹, ›Form‹) beschäftigt sich mit Wörtern und ihren bedeutungstragenden Bausteinen und deren Funktionen. Die Flexion (Beugung) von Wörtern spielt hier eine große Rolle. In der Syntax (gr. syntaksis ›Zusammenstellung, Anordnung‹) setzt man sich mit der Art und Weise auseinander, wie Wörter zu größeren strukturellen Einheiten (Wortgruppen, Sätzen) zusammengefügt werden und welche Funktionen einzelne Teile des Satzes haben. In der Semantik geht es um die Bedeutung von Wörtern und das Zusammenwirken von Bedeutungen in komplexen Einheiten (Sätzen). Die Pragmatik (gr. pragma ›Handlung‹) schließlich beschäftigt sich mit Handlungs- und Situationsbezügen sprachlicher Äußerungen.

      Eine kleine sprachwissenschaftliche Übung vorab – und bitte nicht erschrecken, es wird gleich wieder einfacher! Das Wort Sprachwissenschaft setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen, es ist ein Kompositum mit dem Grundwort Wissenschaft und dem Wortstamm Sprach-. Da der erste, linke Teil den zweiten, rechten Teil in seiner Bedeutung determiniert, liegt ein so genanntes Determinativkompositum vor. Der Kern dieses Determinativkompositums, Wissenschaft, ist selbst ein Wort, das aus dem Bestandteil Wissen und der Endung -schaft besteht. Das Teil -schaft wird an das Substantiv Wissen angehängt und bildet mit diesem zusammen ein so genanntes Derivativum. -schaft tritt gebunden auf und bildet – zusammen in erster Linie mit einem Substantiv – ein neues Substantiv; von der Herkunft gehört es zu schaffen, ahd. scaffan, dazu scaf ›Art und Weise‹. Dem Wortbildungsprozess liegt folgendes Schema zugrunde: [X-y → Z], im Fachchinesisch formuliert: An das Grundmorphem X wird das Suffix y adjungiert, beide zusammen bilden das Derivativum Z. Diese Art des Prozesses der Wortbildung wird als Derivation bezeichnet, im Unterschied zur Komposition. Das Bestimmungswort Sprach- tritt ebenfalls nur gebunden auf, ist aber, anders als -schaft, wortfähig: Sprache. Da nur der Wortstamm als Determinationsbasis genommen werden kann, wissen wir nicht, ob Sprachwissenschaft die Wissenschaft von der Sprache oder von den Sprachen ist. Es trifft beides zu.

      Die Sprachwissenschaft ist eine Art ›Zweifronten-Wissenschaft‹, wie es der berühmte Sprachwissenschaftler Roman Jakobson (1896–1982) einmal formuliert hat, die sich mit der Sprache an und für sich und ihren Erscheinungsformen beschäftigt. Damit ist gemeint, dass als zentraler Gegenstand der Sprachwissenschaft die Sprache als spezifisch menschliches Phänomen gesehen wird, das quer über alle Einzelsprachen hinweg ganz bestimmte Eigenschaften hat, welche es zu beschreiben und erklären gilt. Der Zugang zu diesem Phänomen wird über die Untersuchung von Einzelsprachen ermöglicht, wobei es darum geht herauszufinden, welche Eigenschaften Einzelsprachen aufweisen und nach welchen Gesetzmäßigkeiten sie zueinander in Beziehung stehen.

      Stellt der Physiker seine Fragen an die Natur, der Wirtschaftswissenschaftler an die wirtschaftlichen Verhältnisse, so der Sprachwissenschaftler an die sprachliche Wirklichkeit. Beispielsweise fragt er, ob alle Sprachen der Welt nach einem vergleichbaren Muster geformt sind, ob sie sich alle aus einer Ursprache entwickelt haben und, wenn ja, warum es dann heute so viele Sprachen gibt. »Die ersten tastenden versuche einer sprachwissenschaft setzten ein«, so beginnt der dänische Sprachwissenschaftler Otto Jespersen (1860–1943) sein Buch Die Sprache. Ihre Natur, Entwicklung und Entstehung, »als der menschliche geist sich zum ersten mal problemen wie den folgenden zuwandte: Wie kommt es, daß man nicht überall dieselbe sprache spricht? Wie entstanden die ersten wörter? Welche beziehung besteht zwischen einem gegenstand und seiner bezeichnung? Warum heißt die und die person oder die und die sache so und nicht anders?« (Jespersen 2003: 1).

      Der entscheidende Schritt bei der sprachwissenschaftlichen Tätigkeit, der die Lücke zwischen Frage und deren Beantwortung schließt, ist der der wissenschaftlichen Methode. Erst wenn Wissen aus systematischer Beobachtung, Schlussfolgerungen aus dem Beobachteten, Begründung und Überprüfung durch neue Beobachtungen/Experimente gewonnen wird, ist es wissenschaftlich gewonnenes Wissen. Beobachten, systematisieren, ein Modell bzw. eine Theorie entwickeln, die das Beobachtete erklärt, sowie das Überprüfen derselben sind elementare Schritte aller wissenschaftlichen Tätigkeit, die Fragen an die Wirklichkeit stellt. Die wissenschaftliche Methode stellt sicher, dass im Hinblick auf die Erkenntnisse ein hoher Geltungsgrad erreicht werden kann.

      Die Sprachwissenschaft ist eine Wissenschaft mit einer langen und großen Tradition. Zu den ›Sieben Freien Künsten‹ (septem artes liberales), einem Kanon von Studienfächern, der in der Antike entstanden ist, gehört das Trivium. Wir würden heute dazu Grundstudium sagen. Zum Trivium gehörten: 1. Grammatik, 2. Rhetorik (Rede- und Stilkunde) sowie 3. Logik. Drei Bereiche, die in der heutigen Sprachwissenschaft gelehrt werden: 1. der wichtige Bereich Grammatik mit dem Schwerpunkt Syntax, 2. Pragmatik (Rhetorik und Diskursanalyse) und 3. Semantik mit Logik als Basis.

      Grammatik als ein eigener linguistischer Forschungsgegenstand ist in der abendländischen Kultur relativ spät entstanden und wird heute auf das 1. Jahrhundert v. Chr. datiert. Allerdings wurden bereits zuvor linguistische Probleme der Lautlehre, der Semantik und der Satzteile im Rahmen philosophischer, rhetorischer und insbesondere philologischer Fragen erörtert. Hier sind zunächst Platon (Kratylos und Sophista) und Aristoteles (Peri Hermeneias) zu nennen. Platon (428/27–348/47 v. Chr.) führt als Basiskonstituenten für Aussagen/Sätze eine Nomen-Verb-Unterscheidung ein, Aristoteles (384–322 v. Chr.) erweitert dies um eine funktionale Komponente, indem er zunächst Wortklassen einführt und dann ihre funktionalen Rollen beschreibt. Dabei wird dem Onoma, dem Nomen im Nominativ/Subjekt (gegenüber den anderen Nomina mit Kasus) eine zentrale Rolle zugewiesen, denn es bildet zusammen mit dem Verb/Prädikat (Rhema) einen Aussagesatz, der nach dem Kriterium wahr/falsch beurteilt werden kann. Obwohl Platon und Aristoteles Grundkonzepte wie Nomen und Verb, Satz und Wort sowie Flexion einführen, wird der Durchbruch für eine antike Grammatiktheorie und -schreibung den Logik-Analysen der Stoiker (3. Jahrhundert v. Chr.) zugeschrieben, insbesondere den Arbeiten von Chrysippius. Es liegen jedoch keine direkten Zeugnisse vor, sondern das heutige Wissen stammt aus späteren Quellen, insbesondere dem Überblick des Diogenes Laertius (3./4. Jh. n. Chr.). Eine erste Synopse der Spracherkenntnisse der griechischen Philosophen gab Dionysios Thrax (2. Jh. v. Chr.) in seiner Technē grammatikē (grammatische Wissenschaft), der ersten griechischen Grammatik. Einen Meilenstein in der Grammatikmodellierung stellen die Analysen von Apollonius Dyscolus (2. Jh. n. Chr.) dar, der an die Logik und Begriffsbildung der Stoiker und an philologische Methoden anknüpft und der als erster syntaktische Fragen als eigenständiges Forschungsobjekt thematisiert hat: »Das grösste Verdienst des Appollonios, seine schöpferische Tat, ist die ›Syntax‹« (Steinthal 1891, Bd. 2: 339).

      Die Redekunst (altgr. rhētorikСкачать книгу