Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Heinz Pürer

Publizistik- und Kommunikationswissenschaft - Heinz Pürer


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in amerikanischen Tageszeitungen ergründete Carl Merz (1925) Merkmale wie Personalisierung, Prominenz, Spannung und Konflikt. In den 1950er-Jahren [135]wurde in den USA ein relativ stabiler Katalog von sechs Faktoren entwickelt, die als Definitionskriterien für Nachrichten in Lehrbüchern für Journalisten aufscheinen, nämlich: Konflikt, Unmittelbarkeit, Nähe, Prominenz, Ungewöhnlichkeit und Bedeutung (vgl. Warren 1953). In Europa trug Einar Östgaard verschiedene Ergebnisse empirischer Forschung zusammen und kam zu dem Schluss, dass in erster Linie die Faktorendimensionen Vereinfachung, Identifikation und Sensationalismus die Zeitungsinhalte bestimmen (vgl. Östgard 1965; Schmidt/Zurstiege 2000, S. 134): Mit Vereinfachung ist gemeint, »dass die Medien einfache Nachrichten gegenüber komplexer strukturierten bevorzugen«. Mit dem Faktorkomplex Identifikation wird zum Ausdruck gebracht, »dass Nachrichten, sollen sie ihr Publikum erreichen, nicht nur verständlich, sondern darüber hinaus auch relevant für das Publikum sein müssen«. Dabei erhalten kulturell nahe liegende Themen eine Bevorzugung gegenüber kulturell entfernteren Themen. »Mit dem Faktorenkomplex Sensationalismus beschrieb Östgaard seine Beobachtung, dass die Nachrichtenmedien die Aufmerksamkeit ihres Publikums v. a. durch Berichte über dramatische und emotional aufgeladene Ereignisse zu gewinnen suchen. Aus diesem Grund dominieren Nachrichten über Krisen, Konflikte und Auseinandersetzungen in der Berichterstattung der Medien« (Schmidt/Zurstiege 2000, S. 134).

      Aufbauend auf den Überlegungen Östgaards entwickelten die ebenfalls norwegischen Friedensforscher Johan Galtung und Mari Holmboe Ruge die Nachrichtenwerttheorien theoretisch weiter. Galtung und Ruge formulierten zwölf Auswahlregeln, die sie als Nachrichtenfaktoren bezeichneten; deren empirisch-inhaltsanalytische Überprüfung nahmen sie allerdings nur anhand eines kleinen Ausschnittes, nämlich an der Auslandsberichterstattung (Kongo, Kuba, Zypern-Krise) von vier Tageszeitungen vor. Es sind dies die Faktoren Elite-Nationen, Elite-Personen, Frequenz, Schwellenfaktor, Eindeutigkeit, Negativismus, Bedeutsamkeit, Konsonanz, Überraschung, Kontinuität, Variation/Kompensation sowie Personalisierung. Aus den nachfolgenden Ausführungen geht hervor, was inhaltlich jeweils gemeint ist (vgl. Abb. 2, S. 136).

      In den Faktoren 1 bis 8 sind kulturunabhängige Faktoren zu sehen, in den Faktoren 9 bis 12 kulturabhängige. Wie Siegfried J. Schmidt und Guido Zurstiege (2000) schreiben, haben Galtung und Ruge versucht, »das Zusammenwirken der einzelnen Nachrichtenfaktoren im gesamten Prozess der Nachrichtenselektion näher zu bestimmen. In fünf Hypothesen konkretisierten Galtung und Ruge die Ergebnisse ihrer theoretischen Überlegungen:

1)Selektionshypothese: Je stärker die Nachrichtenfaktoren auf ein Ereignis zutreffen, desto wahrscheinlicher ist es, dass darüber berichtet wird.
2)Verzerrungshypothese: Die Merkmale, die den Nachrichtenwert eines Ereignisses bestimmen, werden in der Berichterstattung akzentuiert. Dies hat zur Folge, dass das Bild, das die Nachrichtenmedien von den berichteten Ereignissen vermitteln, in Richtung auf Nachrichtenfaktoren verzerrt ist.
3)Wiederholungshypthese: Weil Prozesse der Selektivität und der Verzerrung auf allen Stufen der Nachrichtenproduktion ablaufen, verstärken sich die Verzerrungseffekte, je mehr Selektionsstufen im Prozess der Nachrichtenproduktion überwunden werden müssen. Gerade im Rahmen der Auslandsberichterstattung müssen lange Selektionsketten überwunden werden, was zur Folge hat, dass Auslandsmeldungen stärker in Richtung auf die Nachrichtenfaktoren verzerrt sind als Inlandsmeldungen.
4)Additivitätshypothese: Je mehr Nachrichtenfaktoren auf ein Ereignis zutreffen, desto wahrscheinlicher ist es, dass über dieses Ereignis berichtet wird.
5)Komplementaritätshypothese: Die Nachrichtenfaktoren verhalten sich komplementär zueinander, das Fehlen eines Faktors kann also durch einen anderen ausgeglichen werden« (Schmidt/Zurstiege 2000, S. 137f).

      (nach Galtung/Ruge 1965, in: Noelle-Neumann, Elisabeth et al. (Hrsg.): Fischer Lexikon Publizistik/Massenkommunikation 2009, S. 391)

      Der Faktorenkatalog von Galtung/Ruge wurde von deutschen Kommunikationswissenschaftlern wie Winfried Schulz (1976), Joachim F. Staab (1990), Christiane Eilders (1997), Georg Ruhrmann et al. (2003), Benjamin Fretwurst (2008) überarbeitet, erweitert und in meist breit angelegten Forschungsarbeiten (Medieninhaltsanalysen, Befragungen von Mediennutzern und auch Journalisten) empirisch überprüft. Während z. B. Schulz und Staab in ihren Forschungen mittels Inhaltsanalyse kommunikatorientiert arbeiteten, sind z. B. Eilders, Fretwurst und auch Ruhrmann et al. mittels Befragungen auch rezipientenorientiert. Die Faktoren von Schulz (1976) und Staab (1990) lassen sich dabei wie folgt gegenüber stellen (vgl. Abb. 3), wobei erkennbar ist, dass zahlreiche Faktoren übereinstimmen, teils aber etwas anders benannt werden. Eilders (1997) fügte den Faktor Sex/Erotik hinzu, Fretwurst in seiner Systematik (2008, S. 112f sowie S. 130) den Faktor [137]Kuriosität. Ruhrmann et al. (2003) ermittelten den Faktor Visualisierung (vgl. Maier 2003; Dielmann 2003). Die Studien von Ruhrmann et al. (2003), Fretwurst (2008) sowie Michaela Maier et al. (2009) »basieren auf 19 bzw. 22 Nachrichtenfaktoren« (Maier et al. 2010, S. 97). Die Entwicklung des Kataloges der Nachrichtenfaktoren von Ostgaard (1965) bis Ruhrmann et al. (2003) ist dem Lehrbuch »Nachrichtenwerttheorie« von Maier et al. (2010, S. 80–84) zu entnehmen.

      (Schulz, Winfried (1976): Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Freiburg/München. Staab, Joachim Friedrich (1990): Nachrichtenwerttheorie. Formale Struktur und empirischer Gehalt. Freiburg/München. Vgl. auch Maier et al. 2010, S. 80ff.)

      Schulz hat seine 1976 (und dann 1982 etwas modifiziert) hergeleiteten Nachrichtenfaktoren zu sechs Faktorendimensionen gebündelt. Hier die aus 1982 stammende Bündelung bzw. Zuordnung: Faktorendimension Konsonanz: Thema, Vorhersehbarkeit, Stereotypen; Dimension Status: Elitenation, Eliteperson, Eliteinstitution; Dimension Dynamik: Unvorhersehbarkeit, Aktualität, Unsicherheit; Dimension Valenz: Kontroverse, Erfolg, Aggression, Werte; Dimension Identifikation: Personalisierung, Ethnozentrismus, Nähe, Emotionen; Dimension Relevanz: Konsequenzen, Betroffenheit (vgl. Maier et al. 2010, S. 99 mit Bezugnahme auf Schulz 1982).

      Als problematisch erweist sich, wenn Journalismus und Massenmedien, und dies ist bei Presse, Hörfunk und Fernsehen weitgehend der Fall, sich ausschließlich an Nachrichtenfaktoren orientieren und ihr Selektionsverhalten danach ausrichten. Es kommt dann nämlich zu einer verzerrten [138]Berichterstattung, die Realität und Medienrealität weit auseinander klaffen lässt. Winfried Schulz, der sich, wie dargelegt, intensiv mit Nachrichtenwerten beschäftigt hat, »sieht – wie schon Lippmann (1922) – in den Nachrichtenfaktoren weniger Merkmale von Ereignissen, als vielmehr journalistische Hypothesen von Wirklichkeit, d. h. Annahmen der Journalisten über Inhalt und Struktur von Ereignissen, die ihnen zu einer als sinnvoll angenommenen Interpretation von Realität dienen« (Schulz 1994, S. 332; vgl. auch Schulz 1989). Konsequent weitergedacht würde dies bedeuten, dass Journalisten nur noch Konstrukte von Wirklichkeit liefern bzw. dass Wirklichkeit die Folge der Medien sei – ein Grundgedanke, von dem der Konstruktivismus, bzw. der radikale Konstruktivismus, ausgeht.

      Dem (Kausal-)Modell, das Nachrichtenfaktoren als Determinanten der Auswahl versteht (Orientierung der Journalisten an Nachrichtenwerten – entsprechendes Selektions- und Publikationsverhalten als Folge), wird von Joachim F. Staab und Hans Mathias Kepplinger ein sog. »Finalmodell« (Staab 1990) gegenübergestellt. »Es verweist auf die Möglichkeit der Instrumentalisierung von Nachrichtenfaktoren. Demzufolge spielen bei der Nachrichtenselektion politische Einstellungen der Journalisten eine wichtige Rolle; Nachrichten sind bloß Nebenprodukt oder Legitimation der letztlich durch politische Absichten (der Journalisten – Ergänzung H. P.) gesteuerten Auswahlprozesse« (Schulz 1994, S. 332). Eine vergleichende Darstellung von Kausal- und Finalmodell ist Maier et al. (2010, S. 20) zu entnehmen. Von Kepplinger wurde diese


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