Jüdische Bibelauslegung. Hanna Liss

Jüdische Bibelauslegung - Hanna Liss


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werden.

      |56|Raschi als hebräische ‚Glossa Ordinaria‘Ein formaler Vergleich zwischen Raschi und den lateinischen Kompilatoren des 10./11. Jahrhunderts liegt deshalb nahe, unabhängig davon, in welchem Umfang den jüdischen Gelehrten die lateinischen Glossenkommentare selbst zugänglich waren. Hanna Liss hat in diesem Zusammenhang dargelegt, dass Raschis Kommentare durchaus als erste ‚jüdische Glossa Ordinaria‘ zu beschreiben und ihrem Anspruch nach wohl am ehesten mit der Media Glossatura des Gilbert von Poitiers (ca. 1080–1154) oder der Magna Glossatura des Petrus Lombardus (ca. 1100–1160) zu vergleichen sind (Liss 2011a, 35–55). Das Problem einer fluktuierenden Überlieferung und die Frage, ob und wenn ja, welcher ‚Autor‘ hinter den nordfranzösischen exegetischen Überlieferungen steht, betrifft insgesamt das Verhältnis Raschis zu seinem Schülerkreis, zu dem neben seinem Gefolgsmann und Chronisten R. Schema‘ja auch R. Josef ben Schim‘on Qara und vor allem seine Enkel R. Schemu’el ben Meïr (Raschbam) und R. Ja‘aqov ben Meïr (Rabbenu Tam) gehören. R. Josef Qara wurde bereits von Leopold Zunz und Abraham Berliner als Glossator vorgestellt. Dabei gingen sie davon aus, dass R. Josef weniger den eigentlichen Bibeltext als vor allem den Raschi-Kommentar kommentierte, und diese Meinung wird auch heute noch von einigen Kollegen vertreten. Man stützt sich dabei auf handschriftliche Textzeugen, in denen R. Josef Qara als מעתיק (ma‘atiq ‚Kopist‘) oder כותב (kotev ‚Schreiber‘) Erwähnung findet. Schwierig ist bei dieser Debatte, dass die hebräischen Manuskripte die einzelnen Tosafisten* nicht einheitlich benennen und nach wie vor keine Kriterien entwickelt wurden, nach denen sich entscheiden ließe, was denn von wem mit welchem Anspruch verfasst wurde (zum Ganzen zuletzt Lederer-Brüchner 2017, 45–60). Eine eindeutige Terminologie der Zuschreibungen, wie wir sie im lateinischen Mittelalter mit den Begriffen scriptor, compilator, commentator und auctor ausmachen können, findet sich in der hebräischen Kommentarliteratur nicht. Darüber hinaus ist die Zuordnung exegetischer Kommentierungen zu einzelnen Tosafisten auch deshalb schwierig, weil die auf uns gekommenen handschriftlichen Textzeugen die Glossen unterschiedlich präzisieren. Manche Glossen werden mit einem (Vor-)Namen versehen (‚R. Josef‘; ‚R. Schemu’el‘), andere nicht, und wieder andere überliefern ähnliche Glossierungen unter verschiedenen Namen (Liss 2016a). Der handschriftliche Befund verbietet allerdings vorschnelle Zuordnungen. Weitere Detailforschungen an jeder einzelnen Handschrift und jedem einzelnen biblischen Buch, wie zuletzt beispielhaft in dem umfangreichen Vergleich zu den Qara-Kommentaren zum Buch Rut von Ingeborg Lederer-Brüchner (Lederer-Brüchner 2017), sind hier erforderlich. Der Zugang zu den exegetischen Glossen vermittels des Manu|57|skriptes kann überdies den Blick für Dinge schärfen, die bislang in der Bearbeitung der Glossen unberücksichtigt geblieben sind. Dazu gehören auch die Buch-‚formen‘ (einschließlich mise-en-texte und mise-en-page), das Layout der Glossen oder die Schreibrichtung (dazu ausführlich Liss 2018b).

      2.2. Persönlichkeiten

      a. R. Schelomo Jitzchaqi (Raschi; ca. 1040–1105)

      BiographieDie erste Generation der jüdischen Gelehrten in Nordfrankreich finden wir in der Champagne, vor allem in der Messestadt Troyes. Hier ist als erster und wichtigster Kommentator R. Schelomo Jitzchaqi (späteres Akronym: Raschi) zu nennen. Biographische Informationen über Raschi haben wir wenig (vgl. Petzold 2018; Grossman 2006; 2001; 2000). Soweit wir wissen, wurde er in Troyes geboren (Champagne-Ardenne, südöstlich von Paris, südwestlich von Metz). Juden sind in Troyes schon seit rabbinischen Zeiten bekannt, aber erst seit der 1. Hälfte des 11. Jahrhunderts finden wir dort eine organisierte Gemeinde, die von ihren Mitgliedern Steuern einzog, und wir hören auch von jüdischem Grundbesitz (Taitz 1994). Zu Raschis Zeiten hatte diese Gemeinde sicher nicht mehr als ca. 100 Mitglieder (nicht: Familien). Raschis Mutter war die Schwester eines R. Schim‘on ‚ha-Zaqen‘, wohl nicht identisch mit R. Schim‘on bar R. Jitzchaq, einem Pijjut*-Autor. Seinen Vater erwähnt Raschi einmal als seinen Lehrer (abba mori) in seinem Kommentar zu bAZ 75a. Bedingt durch sein familiäres Umfeld (Weinbau; Landwirtschaft) lernte er dort alles Mögliche zu Währung, Geldhandel und Warenaustausch, aber auch über unterschiedliche handwerkliche Tätigkeiten – Gravierungs- und Prägetechniken, Stoff- und Wollverarbeitung etc. – ein Wissen, das ihm später bei seiner Kommentierung von Talmud* und Bibel immer wieder nützlich sein würde. Nach seiner religiösen Grundausbildung in Troyes zog es ihn zu den aufstrebenden Zentren im Aschkenaz*, zunächst nach Mainz, dann für weitere drei bis fünf Jahre nach Worms. Seine Lehrer in Mainz waren der bereits erwähnte R. Ja‘aqov ben Jaqar (st. 1064), und R. Jitzchaq ben Jehuda (11. Jahrhundert) sowie R. Jitzchaq ben R. El‘azar ha-Levi (st. nach 1070) in Worms. Um 1070 kehrte Raschi nach Troyes zurück; den Kontakt zu den Gemeinden in Mainz und Worms hat er stets zu halten versucht. Raschi starb 10 Jahre nach dem Beginn des 1. Kreuzzugs (1105). Sein Grab ist unbekannt.

      Talmudstudium in MainzBei R. Ja‘aqov lernte Raschi vor allem Genauigkeit und Traditionstreue im Umgang mit den talmudischen und biblischen Tex|58|ten sowie neue Formen der Verschriftung traditioneller Lehr- und Lerninhalte. Durch R. Jitzchaq, der stärker in Gemeindepolitik und öffentliche Angelegenheiten involviert war, wurde Raschi mit einer weitaus praxisorientierteren und pragmatischen Auslegung vertraut gemacht, die ihm später in Troyes sehr zugute kommen sollte. Beim Talmudstudium machte man sich stichwortartige Notizen zu den Lernabschnitten, die auch mit Lehrern und Schülern anderer Jeschivot ausgetauscht wurden. Diese Notizen wurden gesammelt und fanden Verbreitung entweder als ‚Kommentare der Weisen von Mainz‘, ‚Kommentare der Frommen aus Mainz‘ oder einfach ‚Mainzer Kommentare‘, wie diese Anmerkungen beispielsweise bei Natan ben Jechi’el aus Rom (dem sog. Ba‘al ha-Arukh), einem italienischen Lexikographen (1035–ca. 1110), genannt werden. Aus den Mainzer Kommentaren wird namentlich oder anonym zitiert, ähnlich der rabbinischen Art der Tradierung. Die Notizen aus Mainz und Worms wurden so zur Grundlage für Raschis eigene Kommentare und zum Ausgangspunkt eigener halachischer Entscheidungsfindung.

      Lehrhaus in TroyesIn Troyes und Umgebung wird Raschis Kompetenz in halachischen Fragen schnell erkannt, wie an der Vielzahl schriftlicher Anfragen zu sehen ist. Seine halachischen Entscheidungen sind ausgesprochen praxisorientiert (Grossman 2012, 12–51). Schon bald nach seiner Ankunft begründet er ein Lehrhaus, das wir uns jedoch nicht als groß angelegte ‚Akademie‘ vorzustellen haben, sondern als eine mehr oder weniger formlose Zusammenkunft von Schülern im Hause eines Lehrers. Das gemeinsame Lernen fand zumeist im privaten Raum statt, der dann punktuell zum Bet Midrasch* avancierte. Dort waren die bekanntesten seiner Schüler Simcha ben Schemu’el aus Vitry und R. Schema‘ja (Epstein 1897). Schon sehr bald wurde Raschi der Titel parschan data ‚Erklärer des Gesetzes‘ beigelegt, ein Titel, der möglicherweise schon auf R. Avraham ibn Ezra zurückgeht und der Raschi nicht nur als Bibelerklärer, sondern auch und vor allem als Talmudausleger charakterisiert.

      Abb. 7: Raschi, Perusch al ha-Tora. Venedig 1522.

      Raschi als KommentatorBei der Aufzeichnung seiner Kommentare begann Raschi mit dem Talmud, noch vor der Bibel, obwohl sich diese beiden Kommentarbereiche wahrscheinlich zeitlich überlappten. Es ist anzunehmen, dass er jedes biblische Buch kommentierte, allerdings stammen die heute unter seinem Namen gedruckten Kommentare zu Esra/Nehemia, Chronik und Hiob 40,25–42,17 nicht aus seiner Feder. Darüber hinaus hat Raschi auch Kommentare zu den pijjutim* verfasst. Einen ‚Urtext‘ von Raschis Kommentar gibt es nicht (siehe auch oben Kap. 2.1.d.), nicht einmal für den Pentateuch-Kommentar. Schon zu seinen Lebzeiten haben seine Schüler Sammlungen angefertigt, sog. quntresim, die vielfach kursierten |60|und laufend überarbeitet, ergänzt und modifiziert wurden. Nach Penkower hat Raschi selbst seine Kommentare revidiert und ergänzt (Penkower 2007b).

      Raschis SchülerDie meisten Schüler Raschis waren entweder jüngere Männer aus gut situierten Elternhäusern oder Geschäftsleute, die sich vor allem zu den Messezeiten (zweimal jährlich) in Troyes aufhielten. Als Handels- und Umschlagplatz zeichnete sich Troyes schon frühzeitig durch Modernität und Weltoffenheit aus. Die Schüler, die von außerhalb hinzustießen, brachten, bedingt durch ihre unterschiedlichen Berufe und Gewerbe, ein hohes Wissen über allgemeine Bereiche des Lebens wie Wirtschaft, Naturwissenschaft, Medizin, Geographie,


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