Grundlagen der Psychiatrie. Klaus Paulitsch

Grundlagen der Psychiatrie - Klaus Paulitsch


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Entdeckung der Neurotransmitter, die Entwicklung von Psychopharmaka und durch neue radiologische Darstellungen des Zentralnervensystems außerordentliche Fortschritte erzielt und gilt derzeit als größter psychiatrischer Forschungsbereich.

      Die Sozialpsychiatrie befasst sich mit der Häufigkeit psychischer Störungen sowie deren soziokulturellen Bedingungen und richtet ihr Augenmerk auf die Beziehung zwischen Krankheit und Gesellschaft. Im besonderen Blickfeld des Interesses stehen die Auswirkungen von Familienstrukturen, Gewalt oder sozioökonomischen Verhältnissen auf die seelische Entwicklung.

      Die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist mit der Erforschung und Therapie von psychischen Störungen von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen befasst und unterscheidet sich in deren Ansätzen nicht von jenen der übrigen Psychiatrie. Als mittlerweile selbstständiges medizinisches Fachgebiet wird sie in einem eigenen Kapitel dargestellt (siehe Kapitel XVI).

      Die Gerontopsychiatrie (Alterspsychiatrie) ist die ärztliche Seelenheilkunde des höheren Lebensalters und beschäftigt sich mit den in diesem Alter besonders häufig auftretenden psychischen Krankheiten, wie demenzielle und delirante Syndrome oder depressive Störungen. Durch die gesteigerte Lebenserwartung des Menschen ist die Bedeutung dieses Teilbereichs in den letzten Jahren gestiegen.

      Die forensische Psychiatrie gilt als Grenzgebiet zwischen Psychiatrie und Rechtsfragen und befasst sich mit juristischen Aspekten psychischer Erkrankungen. Im Zentrum stehen Fragen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, Geschäfts- und Testierfähigkeit, freien Willensbestimmung (Erwachsenenvertretung, Vollsorgevollmacht, Sachwalterschaft) und der Unterbringung in eine psychiatrische Abteilung ohne Zustimmung des Betroffenen.

      Die Neurologie ist die Lehre von organisch fassbaren Erkrankungen des Nervensystems, wie beispielsweise Schlaganfälle, Tumore des Gehirns, Multiple Sklerose oder Wurzelkompressionssyndrome nach Bandscheibenvorfällen. Neurologie und Psychiatrie fasste man bis vor wenigen Jahren als „Nervenheilkunde“ zusammen, da das Nervensystem des Menschen als der wesentliche Forschungsgegenstand verstanden wurde. Durch die Fülle der neuen Erkenntnisse und anderer Zugänge wurden die Fächer voneinander differenziert und zu eigenen medizinischen Bereichen.

      Die Psychosomatik ist kein selbstständiges Fach, sondern eine ganzheitliche Betrachtungsweise, welche die körperlichen und seelischen Faktoren aller Erkrankungen des Patienten in ihrer Entstehung, Aufrechterhaltung und Behandlung umfasst. Neuere Erkenntnisse haben die Vorstellung von „psychosomatischen“ Erkrankungen relativiert, da seelische und biologische Faktoren bei allen Erkrankungen untrennbar miteinander verbunden sind.

      Die Psychologie ist die Lehre von normalen seelischen Vorgängen, wie dem Erleben und Handeln des Menschen unter unterschiedlichen körperlichen, biografischen, soziologischen, ökologischen und kulturellen Bedingungen. Für die Psychiatrie sind Entwicklungspsychologie, Tiefenpsychologie und Psychodiagnostik von besonderem Interesse. Der Beruf der Psychologin/des Psychologen erfordert ein eigenes akademisches Studium.

      Die Psychotherapie kann als Teilbereich der psychiatrischen Behandlung betrachtet werden und stellt eine Therapie von psychischen Störungen mit psychologischen Mitteln dar. Als ein bewusster und geplanter interaktiver Prozess zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen oder Leidenszuständen aller Art hat sich die Psychotherapie in vielen Bereichen des Gesundheitswesens als wichtige Behandlungsform etabliert. Die Ausübung ist an eine spezielle Ausbildung gebunden und gesetzlich geregelt. Zu den einzelnen Verfahren und Schulen zählt man u. a. die Psychoanalyse, die Verhaltenstherapie oder die systemische Familientherapie (siehe Kapitel III, 3).

      Die Epidemiologie beschäftigt sich als Grundlagenwissenschaft mit der Häufigkeit und den soziologischen Bedingungen von psychischen Störungen. Unter Prävalenz versteht man die Gesamtzahl aller Krankheiten oder Störungen einer definierten Gruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt. Inzidenz definiert die Häufigkeit von neu aufgetretenen Krankheiten innerhalb eines bestimmten Zeitraums. Moderne Epidemiologie versucht, Untersuchungsergebnisse und Ansätze aus unterschiedlichen Forschungsgebieten zu integrieren.

      Die ersten Aufzeichnungen über psychische Krankheiten reichen bis in die Antike zurück. Der griechische Arzt Hippokrates (460–370 v. Chr.) beschrieb bereits Krankheitsbilder, die mit heutigen psychischen Störungen vergleichbar sind, und gilt als Begründer der Vier-Säfte-Lehre. Diese humoralpathologische Vorstellung beschreibt beispielsweise bei Depressionen ein Überwiegen der „schwarzen Galle“. Die damaligen therapeutischen Maßnahmen beschränkten sich auf Diätvorschläge, Veränderung der Lebensgestaltung, Massagen etc., was einer materialistisch-biologischen Sichtweise von psychischen Störungen entspricht. Obwohl wenige Aufzeichnungen über die anschließenden Jahrhunderte vorliegen, geht man davon aus, dass psychische Krankheit häufig als Folgeerscheinung von Sünde oder Besessenheit von Teufeln, Hexen oder bösen Geistern angesehen wurde. Diese religiöse oder mystische Sichtweise bestimmte im Mittelalter die Vorstellung über psychische Auffälligkeiten und erforderte entsprechende Behandlungsformen. Exorzismus oder schwarze Magie waren bis in die Zeit der Aufklärung Bestandteil der „Therapie“ von psychiatrischen Krankheitsbildern, wobei die katholische Tradition in Hinblick auf Exorzismus in manchen Regionen Europas bis heute noch lebendig ist. Obgleich schon Paracelsus (1493–1541) biologische Ursachen von psychischen Krankheiten vermutete, wurden noch im 17. und 18. Jahrhundert psychisch auffällige Menschen weder als „krank“ angesehen noch ärztlich behandelt, sondern Verbrechern, Landstreichern und Prostituierten gleichgestellt, um sie in Zuchthäusern und Gefängnissen zu verwahren. Eine humanisierte Behandlung entwickelte sich vermutlich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die Aufklärung und eine veränderte christliche Haltung, die zunehmend durch Nächstenliebe bestimmt war. Philippe Pinel (1745–1826) und Jean-Etienne Esquirol (1772–1840) gelten als Begründer der klinischen europäisch orientierten Psychiatrie, die sich damals vorwiegend mit der Schilderung und Beschreibung von psychischen Auffälligkeiten befasste. Pinel gilt auch als „Befreier der Irren von ihren Ketten“, da er für humane Formen der psychiatrischen Unterbringung kämpfte, sein Schüler Esquirol begründete die französische Psychiatrie, gekennzeichnet durch psychohygienische Ideen. Angewendet wurden beispielsweise Kuren, Heilbäder, die Verabreichung von Kampfer oder Opium. Die bis dahin übliche Praxis der körperlichen Züchtigung, Zwangsmaßnahmen oder religiöse Riten wurden von Pinel und Esquirol und deren Anhängern abgelehnt. Im 18. Jahrhundert wurden Irrenanstalten im Sinne der Aufklärung gegründet, die aus heutiger Sichtweise eher skurrilen Gefängnissen als Heilstätten glichen, wie etwa der „Narrenturm“ in Wien (1784). Nach den Reformbewegungen von Pinel und Esquirol für eine Humanisierung der Behandlung von psychischen Erkrankungen gab es auch Rückschritte, wie etwa in der romantischen Epoche in Deutschland, in der man sich wieder mehr der religiösen bzw. Gefühlswelt zuwandte. Johann Christian Heinroth (1782–1862) etwa vertrat die spekulativ-psychologische Sichtweise, dass geistige Störungen die Folge von Sünde oder Schuld seien oder die Krankheit durch Freiheitsberaubung entstehe. Neben den psychologischen Hypothesen entwickelten sich auch nicht minder unausgereifte somatische Konstruktionen, welche die damalige Psychiatrie in zwei Gruppen spaltete: Die „Psychiker“ definierten Geisteskrankheiten als Krankheiten der Seele, hingegen favorisierten die „Somatiker“ – die als Vorläufer der biologisch orientierten PsychiaterInnen gelten – naturwissenschaftliche Ansätze. Eine eindeutige Trennlinie gab es auch damals nicht, so waren viele „Somatiker“ nicht frei von mystischen und naturphilosophischen Ansätzen, wie umgekehrt viele „Psychiker“ auch seelisches Leiden als körperliche Regelstörung verstanden. Dennoch durchziehen diese zwei Sichtweisen bis heute die Psychiatriegeschichte: Somatisch orientierte PsychiaterInnen sehen eine psychische Erkrankung als Störung oder Defekt, hingegen erscheint Vertretern der „romantischen“ Psychiatrie von einst bis heute die psychische Krankheit als Kehrseite der „Normalität“ bzw. als deren Verständnis. So leitete Sigmund Freud seine Vorstellungen des psychischen Apparats von neurotisch erkrankten PatientInnen ab. Die Erkenntnisse von naturwissenschaftlichen


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