Sprachtherapie mit Kindern. Группа авторов
als „Nikolaus“ bezeichnet. Anton muss nun seine Hypothese über die Wortbedeutung überarbeiten: Offenbar werden nicht nur Süßigkeiten, sondern auch ältere Männer in Bilderbüchern „Nikolaus“ genannt. Da der Opa das Wort beim Vorlesen mehrfach nennt, kann Anton auch seine phonologische Wortform ausdifferenzieren: aus / ‘_ _ _ / wird / ‘laus / . Nun kann Anton das Wort bereits selbst produzieren.
In weiteren Begegnungen mit Nikoläusen jeglicher Art kann Anton nun allmählich seine Hypothese über die Bedeutung des Wortes immer mehr der konventionellen, erwachsenensprachlichen Bedeutung anpassen. Auch die phonologische Wortform wird kontinuierlich überarbeitet, bis sie schließlich dem zielsprachlichen / ‘nikolaus / entspricht.
Ausdifferenzierung der Wortbedeutung In diesem Beispiel wird deutlich, dass es im Prozess der Ausdifferenzierung der Wortbedeutungen zu Über- und Unterdehnungen des Referenzbereichs kommen kann. Unterdehnungen (auch: Untergeneralisierungen, Überspezifizierungen, Rupp 2013) stellen recht häufige Phänomene im Rahmen des frühen Wortschatzerwerbs dar (Dromi 1999). Sie zeigen, dass das Kind den Referenzbereich zu eng fasst, also z. B. nur den speziellen Schoko-Nikolaus als „Nikolaus“ bezeichnet, andere Schoko-Nikoläuse, Abbildungen von Nikoläusen in Büchern oder als Nikoläuse verkleidete Menschen hingegen nicht. Überdehnungen (auch: Übergeneralisierungen, Unterspezifizierungen, Rupp 2013) stellen das Gegenteil dar. Sollte Anton z. B. nun die Hypothese aufstellen, dass alle älteren Männer mit Bart „Nikolaus“ heißen, würde dies den Referenzbereich zu weit fassen. Beide Prozesse lassen sich als Annäherungsprozesse an die konventionelle, sprachgebundene Bedeutung eines Wortes beschreiben und werden von Kindern im physiologischen Erwerb meist bis zu einem Alter von 30 Monaten überwunden (Clark 2009).
Kritischer Exkurs: Die Frage danach, wie Kinder es überhaupt schaffen, so blitzschnell die Zuordnung einer Wortform zu einem bestimmten Referenten zu leisten, wurde in der Vergangenheit oftmals über die Annahme angeborener Erwerbsbeschränkungen, sogenannter „constraints“ oder „assumptions“, beantwortet (Markman 1993; Clark 2009). Hierbei handelt es sich um kognitive oder lexikalische Vorannahmen, die den Kreis der möglichen Referenten zu einer Wortform einschränken und dem Kind dabei helfen, eine Wortform möglichst rasch einem Referenten zuzuordnen sowie eine Hypothese über die Wortbedeutung aufzustellen (Rothweiler 2001; Ulrich 2012). So führt das „whole object constraint“ (Markman 1993) dazu, dass Kinder neue Wörter für Objektwörter auf das gesamte Objekt beziehen und nicht nur auf einzelne Teile davon. Anton würde daher ausschließen, dass mit „Nikolaus“ allein das bunte Papier der Süßigkeit gemeint sei. Die „mutual exclusivity assumption“ besagt, dass jeder Referent nur einen einzigen Namen haben kann, so dass verschiedene Bezeichnungen für den gleichen Referenten ausgeschlossen werden. Ein umfassender Überblick über die unterschiedlichen constraints sowie ihre teilweise experimentell nachgewiesene psychologische Realität findet sich bei Rothweiler (2001). Rothweiler (2001) weist jedoch darauf hin, dass die These, bei den constraints handele es sich um angeborene, a priori zur Verfügung stehende Mechanismen, empirisch nicht haltbar sei. Vielmehr geht sie davon aus, dass Erwerbsbeschränkungen erst im Zuge fortgeschrittener kognitiver und sprachlicher Entwicklung des Kindes als aktive Strategien entdeckt und eingesetzt werden (Dromi 1999; Clark 2009). Ein vollkommener Widerspruch gegen die Annahme kognitiver oder sprachlicher Vorannahmen kommt seitens sozial-pragmatischer Erwerbstheorien wie dem gebrauchsbasierten Ansatz (Tomasello 2001, 2003; Bruner 2008; Bloom 1993). Ihrer Ansicht nach reichen die Informationen, die ein Kind aus der Interaktionssituation mit seinen Bezugspersonen ziehen kann, vollkommen aus, um eindeutige referentielle Bezüge herstellen zu können. Hilfreich sind hierfür z. B. der gemeinsame Aufmerksamkeitsfokus sowie die Fähigkeit des Kindes, die Absichten und Intentionen seiner Bezugspersonen verstehen zu können („intention reading“, Tomasello 2001; 2003). Das Emergenzmodell (Emergentist Coalition Cue Model, Hirsh-Pasek et al. 2000) versucht, diese beiden konkurrierenden Sichtweisen in ein gemeinsames Modell zu integrieren (Klann-Delius 2008a). Die zentrale Annahme ist, dass Kinder im lexikalischen Erwerb von einem Bündel unterschiedlicher Hinweisreize Gebrauch machen, um sich die Bedeutung neuer Wörter zu erschließen („coalition of cues“, Hirsh-Pasek et al. 2000). Zu verschiedenen Zeitpunkten des lexikalischen Erwerbs spielen die Hinweisreize eine unterschiedlich wichtige Rolle. So orientieren sich Kinder zu Beginn des Wortschatzerwerbs vor allem an der perzeptuellen Auffälligkeit des Referenten, an der prosodischen Struktur des Sprachinputs sowie der zeitlichen Nähe der Präsentation von Referent und Benennung, während zu einem späteren Zeitpunkt die Informationen aus dem sozialen Kontext, die Blickrichtung des Gesprächspartners sowie grammatische Hinweise genutzt und interpretiert werden.
phonologische Schleife des Arbeitsgedächtnisses Im zuvor genannten Beispiel wird zudem deutlich, dass die komplexe Aufgabe der allmählichen Ausdifferenzierung der phonologischen Wortformen einen stetigen Einbezug der phonologischen Schleife des Arbeitsgedächtnisses erfordert.
So muss Anton das Wort „Nikolaus“, das er von seinen Bezugspersonen hört, in der phonologischen Schleife des Arbeitsgedächtnisses aufrecht halten. Gleichzeitig muss er in seinem mentalen Lexikon den bereits abgelegten Eintrag suchen und dessen aktuell gespeicherte phonologische Wortform aktivieren (z. B. / laus / ). Nun kann er beide Wortformen miteinander vergleichen und feststellen, an welcher Stelle sie sich voneinander unterscheiden, so dass er seinen aktuellen Eintrag überarbeiten und in veränderter Form abspeichern kann (z. B. zu / kolaus / ).
Die phonologische Schleife des Arbeitsgedächtnisses spielt somit eine zentrale Rolle für den Wortschatzerwerb. Sie ist für das Verstehen von Wörtern notwendig und sie ist grundlegend für den Erwerb neuer Wörter sowie die allmähliche Ausdifferenzierung phonologischer Wortformen (Baddeley et al. 1998; Rothweiler 2001):
„Nur auf der Basis einer adäquaten, temporären phonologischen Speicherung im Arbeitsgedächtnis gelingt die Konstruktion eines stabilen Wortformeintrags“ (Rothweiler 2001, 68).
Differenzierte phonologische Repräsentationen können somit nur dann aufgebaut werden, wenn die phonologische Wortform ausreichend lang in der phonologischen Schleife gehalten werden kann, um die Lautstruktur zu analysieren und reihenfolgengenau im Langzeitgedächtnis abzuspeichern. Vor allem im frühen Wortschatzererb zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Speicherkapazität des phonologischen Kurzzeitgedächtnisses und dem Umfang des produktiven Wortschatzes (Adams / Gathercole 1995). Ab dem Vorschul- und Grundschulalter trägt dann auch der Umfang des bereits vorhandenen lexikalischen Wissens dazu bei, den Lernprozess für neue Wörter zu erleichtern (Gathercole et al. 1997). Über die phonologische Schleife hinaus ist die phonologische Informationsverarbeitung noch in weiterer Hinsicht am Wortschatzerwerb beteiligt. So ermöglichen es die Fortschritte des Kindes bei der Ausdifferenzierung seines phonologischen Systems und der Überwindung phonologischer Prozesse, immer zielgenauere phonologische Repräsentationen abzuspeichern (Beitrag 1). Auch die Konsequenz, mit der die Kinder ein und dasselbe Wort mit der gleichen Wortform realisieren, nimmt im Zuge dessen zu (Fox-Boyer / Schäfer 2015). Zunehmende Fähigkeiten der phonologischen Bewusstheit ermöglichen es, immer kleinere Einheiten der phonologischen Wortformen in den Blick zu nehmen, zu segmentieren und zu analysieren (Schäfer 2014). Die Zugriffsgeschwindigkeit auf phonologische Informationen schließlich scheint eine Rolle bei der Automatisierung von Wortabrufprozessen zu spielen (Glück 2010; Beier / Siegmüller 2013).
individuelle Variabilität Schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt zeigt sich eine erhebliche individuelle Variabilität bezüglich des Lexikonumfangs. So ermittelten Bates et al. (1994) in einer englischsprachigen Studie an 1803 Kindern einen durchschnittlichen Wortschatzumfang eines 24 Monate alten Kindes von 311 Wörtern, die Bandbreite lag jedoch zwischen 57 Wörtern bei den unteren 10 % aller Kinder und 534 Wörtern bei den oberen 10 % der Zweijährigen. Deutschsprachige Untersuchungen fanden einen Mittelwert von 214 Wörtern im Alter von 24 Monaten bei einer Spanne von vier bis 458 Wörtern (Szagun et al. 2009; von Suchodoletz 2010; Kauschke 2012).
Übereinstimmend hat man sich in der Fachliteratur darauf geeinigt, Kinder, die im Alter von 24 Monaten weniger als 50 Wörter produktiv verwenden oder keine Zweiwortkombinationen bilden, als Late Talker zu bezeichnen (Kap. 2).
Hinsichtlich