Der Weg der Weisheit. Richard Rohr
Redner und Schriftsteller beziehen sich oft auf „drei Schritte vorwärts und zwei Schritte zurück“.
Hegel nannte es These – Antithese – Synthese.
Georg Ivanovich Gurdjieff (1866–1949) nannte es „Heilige Bejahung“ – „Heilige Leugnung“ – „Heilige Versöhnung“. (In: Beelzebub’s Tales to His Grandson, „Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel“, 1950)
In der Philosophie ist die Rede von Klassik/Essentialismus – Postmoderne/Existenzialismus/Nihilismus – Prozess- bzw. Evolutionsphilosophie.
Die Chemie veranschaulicht dieses Muster durch Lösung – Auflösung – Neulösung.
Paul Ricoeur (1913–2005) sprach von Erster Naivität – Komplexität – Zweiter Naivität, oder: Erster Einfachheit (gefährlich) – Neubewertung – Zweiter Einfachheit (Erleuchtung). (In: The Symbolism of Evil, „Die Symbolik des Bösen“, 1967)
Die Wiederherstellungs-Bewegung spricht von Unschuld – Sucht – Erholung.
Viele sprechen jetzt einfach ganz allgemein von Konstruktion – Dekonstruktion – Rekonstruktion.
Die Christen nennen es Leben – Kreuzigung – Auferstehung.
Angesichts der Dominanz dieses ständig wiederkehrenden Themas muss man es jetzt als schuldhaftes Blindsein betrachten, dass die meisten Menschen dies immer noch als eine Art Überraschung betrachten, als Skandal, Geheimnis oder etwas, das man meiden oder überwinden solle, indem man einfach munter von Stufe eins auf Stufe drei springt. Das ist menschliche Hybris und Illusion. Der Fortschritt verläuft niemals auf einer ganz geraden und ununterbrochenen Linie. Aber wir alle sind von der abendländischen Fortschrittsphilosophie geprägt, die uns lehrt, dass dies der Fall sei, und damit lässt sie uns hoffnungslos und zynisch zurück.
Das vorliegende Buch wurde jetzt dank des liebevollen Bemühens von Vanessa Guerin und Shirin McArthur in eine überarbeitete Fassung gebracht. Wir werden tatsächlich dann „erlöst“, wenn wir dieses universale Realitäts-Muster erkennen und uns ihm ausliefern. Die Kenntnis des ganzen Musters befähigt uns dazu, unsere erste Ordnung loszulassen, der Unordnung zu vertrauen und – was zuweilen das schwierigste ist – der neuen Neuordnung zu vertrauen. Drei große Glaubens-Sprünge für uns alle, und jeder von ihnen hat seinen ganz eigenen Charakter.
Erster Teil
Das heutige Dilemma
Bevor du über den Frieden sprichst,
musst du ihn in deinem Herzen gefunden haben.
Wir sind dazu berufen, Wunden zu heilen,
zu vereinen, was auseinandergefallen ist,
und diejenigen nach Hause zu bringen,
die vom Weg abgekommen sind.
Franz von Assisi
Dreigefährtenlegende, Nr. 58,
vergl. Engelbert Grau, 1993
1
Die Chance der Postmoderne
In der heutigen Welt scheinen viele Menschen den Mut zu verlieren, weil sie sich verwirrt und ohnmächtig fühlen. Ein wichtiger Grund dafür ist die Erfahrung, erdrückenden Mächten ausgeliefert zu sein: Unser Leben wird maßgeblich bestimmt von Konsumrausch, Rassismus, Militarismus, Individualismus, patriarchalischen Strukturen und Konzern-Molochen. Diese „Mächte und Gewalten“ (Epheser 6,12) scheinen alles fest im Griff zu haben. Das weckt in uns das Gefühl, unser eigenes Leben gar nicht mehr selbst wählen, gar nicht mehr normal leben und gar keinen übergreifenden Sinn mehr in alldem sehen zu können.
Dies wurde nach den schrecklichen Terroranschlägen vom 11. September 2001 umso deutlicher. Alles, was bis dahin so wichtig schien – Aktien, Konsum, ein zunehmend wohlhabenderer Lebensstil – verblasste plötzlich. Die Zahl der Kirchenbesucher stieg plötzlich an. Religiöse Websites verzeichneten einen sprunghaften Anstieg der Zugriffe. Wir erlebten eine Welle des Patriotismus, wie wir sie seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatten. Einige Menschen hatten sogar den Mut, in unser kollektives Gewissen zu schauen und zu hinterfragen, ob die Industrieländer genug getan haben, um die weltweite Armut zu beseitigen. In den zwei Jahrzehnten seit dem 11. September 2001 haben wir gesehen, wie es zu weiteren Brüchen in der amerikanischen Gesellschaft und in der Welt kam, zusammen mit globalen Bedrohungen wie der COVID-19-Pandemie. Der Patriotismus ist eher spaltend als einschließend geworden. Der sprunghafte Anstieg der Kirchenbesucherzahlen ist eine ferne Erinnerung und kleinere Gemeinden sind weiter herausgefordert, da sich der Gottesdienst durch das monatelange „social distancing“ ins Internet verlagert hatte. Es gibt viel weniger Glauben an die Möglichkeit eines gemeinsamen Lebens als in den Monaten nach dem 11. September 2001, auch wenn der „Wir bleiben zu Hause“-Zustand einige hoffnungsvolle Zeichen hervorbrachte, wie z.B. das Singen auf Balkonen und spontane Online-Versammlungen. Es ist klar, dass Amerika nicht das einzige Land ist, das mit diesen Problemen kämpft. All dies deutet auf ein langjähriges, tiefes Bedürfnis nach sozialem Wiederaufbau hin, das wir dringend angehen müssen.
So befinden wir uns derzeit meiner Ansicht nach in einer tiefen Sinnkrise. Die Welt kommt uns ungeheuer komplex vor und wir fühlen uns darin furchtbar klein. Können wir denn mehr tun, als uns von den Wogen der Geschichte treiben zu lassen und dabei zu versuchen, einigermaßen den Kopf über Wasser zu halten?
Aber vielleicht können wir diese Geschichte doch etwas genauer anschauen und darin einige Denk- und Handlungsmuster erkennen oder Menschen, die diese Muster durchschaut haben. Darum soll es in diesem Buch gehen. Von daher ist es einerseits ein sehr auf die Tradition bezogenes Buch; allerdings führen andererseits viele heutige Muster zu revolutionären Schlüssen. Dabei möchte ich auch auf jenen Mann zu sprechen kommen, über den – im Vergleich zu anderen Persönlichkeiten der Geschichte – die meisten Bücher geschrieben worden sind: ein Italiener des 13. Jahrhunderts namens Franz von Assisi oder kurz Franziskus. Er muss über einen ganz besonderen Genius verfügt haben, wenn er eine solche Anziehungskraft auf so viele Kulturen und Religionen ausübte und auch heute noch, nach achthundert Jahren, mit vielen seiner Antworten hochaktuell ist.
Franziskus’ Kontext und seine Bezugswelt
Franziskus trat in eine Welt ein, die gerade durch die neu entstehende Marktwirtschaft von Grund auf umgeformt wurde. Er lebte in einer zerfallenden alten Ordnung, in der sein Vater habgierig die Ländereien seiner Schuldner aufkaufte und damit rasch in die neue Unternehmerklasse aufstieg. Die Kirche, die Franziskus vorfand, hatte anscheinend weithin den Kontakt zu den Massen verloren. Aber er vertraute auf eine innere Stimme und eine größere Wahrheit. Er suchte eine klare Mitte und machte sich von ihr aus auf den Weg.
Dieser eine eindeutige Mittelpunkt war für Franziskus Jesus, der Menschgewordene. Von diesem personalisierten Bezugspunkt her verstand er alles andere. In ihm erkannte er den einzigen archimedischen Punkt, an dem er festen Halt finden und von wo aus er seine Welt aus den Angeln heben konnte. Das tat er auf mindestens drei eindeutige Weisen.
Erstens erschloss er sich die Tiefen des Gebets seiner eigenen Tradition, statt nur alte fromme Formeln zu wiederholen. Zweitens suchte er Anleitung im Spiegel der Schöpfung selbst, statt von theoretischen Ansichten und vorfabrizierten Ideen und Idealen auszugehen. Und, was am radikalsten war, er befasste sich drittens intensiv mit der Unterschicht seiner Gesellschaft, der „Gemeinschaft aller, die leiden“, um zu begreifen, wie Gott Menschen verwandelt. Mit anderen Worten: Er fand Tiefe und Weite – und eine Lebensweise, darin zu bleiben.
Die Tiefe bestand aus einem inneren Leben, in dem er sich allen Schatten, Rätseln und Widersprüchen in sich selbst und seiner Mitwelt stellte – einem inneren Leben, in dem sie wahrgenommen, angenommen und vergeben werden. Er glaubte, dass man nur in dieser Tiefe Gott in Fülle und Wahrheit begegnen könne.
Die