Jesus nachfolgen. Henri J. M. Nouwen
zu sagen: „Na ja, die haben ihre eigenen Probleme.“
Aber immerhin: Sie zeigen auf Jesus.
Wir haben es notwendig, Menschen zuzuhören, die anzuhören uns nicht unbedingt leichtfällt. Das können eine recht einfache Frau, ein recht einfacher Mann sein, die uns die Frage stellen: „Liebst du Jesus?“ Sag dann: „Komm her. Worum geht’s?“ Hör dann gut zu. Bleib aufmerksam.
Es könnte auch ein sehr mächtiger Mensch sein, der von Jesus spricht, womöglich sogar der Papst selbst, und du könntest sagen: „Na ja, du tust dich leicht, im Vatikan zu leben, mit all dem Aufwand um dich herum.“ Aber darum geht es nicht. Hör hin.
Es könnte auch ein recht ungewöhnlicher Mensch sein, der sich nicht an alle Regeln hält. Aber sei aufmerksam, wenn dich jemand auffordert, „Jesus nachzufolgen“. Nimm diese Stimme sehr ernst.
„Sieh hin! Sieh das Lamm Gottes!“
Wir können tausend Argumente dafür anführen, nicht hinzusehen, nicht zuzuhören. Aber pass gut auf.
Horche.
Wenn du das nicht tust, findest du Jesus womöglich nie. Diejenigen, die auf Jesus zeigen, zeigen von sich selbst weg. Nimm das ernst.
Im Alten Testament wird erzählt, dass Samuel im Tempel schlief und der Herr ihn anrief: „Samuel, Samuel!“ Da ging er zum Priester Eli und sagte: „Ich höre immer diese Stimme!“ Zuerst sagte Eli: „Geh wieder ins Bett.“ Aber schließlich ging Eli auf, dass Gott den Jungen rief, und er sagte zu ihm: „Gott spricht zu dir.“ Später, als Samuel wieder diese Stimme hörte, gab er zur Antwort: „Herr, hier bin ich. Dein Diener hört“ (1. Samuel 3,1–9). Ohne Eli hätte Samuel nicht erkannt, dass Gott zu ihm sprach. Ohne Johannes den Täufer hätten Johannes und Andreas nicht auf Jesus geschaut.
Wir müssen auf die Menschen in unserem Leben hören, sogar auf die gebrochenen, und sie sehr ernst nehmen.
Fragen
Nach dem Hören müssen wir Fragen stellen.
Johannes und Andreas fragen: „Wo wohnst du?“ Es ist sehr wichtig, dass wir wissen wollen, wer Jesus ist, wenn wir ihm folgen wollen; dass wir ihm wirklich folgen wollen.
„Herr, wo wohnst du? Wir möchten bei dir sein. Wir möchten dich genauer kennenlernen.“
Wir müssen Fragen stellen. Ich muss Fragen stellen.
Hör nicht auf, immer wieder Fragen zu stellen.
„Herr, wie ist das, bei dir zu sein? Ich möchte dir nachfolgen, aber ich bin mir dessen nicht ganz sicher.“
Frag immer wieder.
„Ich habe Menschen Dinge tun sehen, die ich wirklich nicht mag. Zeig mir, wie du bist, damit ich das selbst sehen kann. Zeig es mir. Wo wohnst du?“
An diesem Punkt setzt unser Gebet an. Unsere Gebete fangen an, wenn wir sprechen: „Herr, gib mir ein Gefühl dafür, wer du bist. Manche sagen dieses über dich, andere jenes, aber ich möchte selbst spüren, wer du für mich bist.“
Scheue dich nicht, so zu fragen.
Jesus sagt: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte, sondern ich nenne euch Freunde, weil ich euch alles sage“ (Johannes 15,15). Wir müssen beten, um das zu verstehen. Bete: „Herr, ich möchte dich kennenlernen. Lass mich spüren, wer du bist, damit ich auf Grund dieser Erfahrung sprechen kann.“ Halten wir uns den Evangelisten Johannes vor Augen, der gesagt hat: „Wir haben ihn mit unseren eigenen Augen gesehen, mit unseren eigenen Ohren gehört und mit unseren eigenen Händen berührt“ (1. Johannes 1,1). Das wünsche ich mir für uns: Dass wir von dem sprechen wollen, was wir gesehen und was wir gehört haben.
Wohnen
Die dritte Reaktion auf die Einladung ist die, bei Jesus zu wohnen. „Sie gingen also mit und sahen, wo er wohnte, und blieben jenen Tag bei ihm; es war ungefähr die zehnte Stunde“ (vier Uhr nachmittags, Johannes 1,39).
Um Jesus nachzufolgen, muss man bereit sein, sich zu sagen: „Diese halbe Stunde will ich jetzt bei Jesus wohnen. Ich weiß, dass ich zerstreut sein werde. Ich weiß, dass mir hundert Gedanken kommen und unzählige Einfälle, was ich alles tun müsste. Aber ich weiß, dass du mich liebst und einlädst, auch wenn ich zerstreut und ängstlich bin. Ich will jetzt einfach bei dir wohnen.“
Sei bei ihm und horche auf ihn. Höre den Einen, der dich einlädt. Sei still. Sei wie ein Kind, das mit seiner Mutter und seinem Vater im Haus wohnt. Wohne einfach. Spiele herum. Sei da. Jeden Tag eine halbe Stunde. Sei einfach bloß da. Sitze da und tu nichts. Vergeude Zeit mit Jesus. So verhält sich Liebe. Die Liebe möchte immer bei dem sein, der sie liebt und den sie liebt. Da möchtest du sein. Genieße es. „Jesus, es tut so gut, hier bei dir zu sein“ (vgl. Markus 9,5).
Wir merken dann langsam, dass wir uns im Herrn ein Haus einrichten und in seinem Haus nicht nur während einer halben Stunde sind, sondern den ganzen Tag lang. Wir sind immer im Haus des Herrn. Wo immer wir sind und was immer wir tun – wir sind da, wo der Herr ist. Wir sind bereits bei ihm daheim.
Sogar wenn wir auf dem Weg zu unserem Haus sind, sind wir daheim.
Sag nicht: „Ich habe zu viel zu tun“, sondern: „Ich habe Besseres zu tun.“ Bete und entdecke, was kommt. Wir können in dieser feindseligen, dem ständigen Wettbewerb ausgelieferten Welt leben und daheim sein.
Horche, frage und wohne – und du wirst langsam in Jesus hineinwachsen.
Jesus nachzufolgen ist etwas anderes, als sich einer bekannten Persönlichkeit oder einer Bewegung anzuschließen.
Was ich damit sagen will?
Recht viele Menschen fühlen sich „angezogen von“, „verführt von“ oder „einbezogen in“ Dinge oder Menschen. Genau das ist Heldenverehrung. Wir fühlen uns von Sängern und Filmstars angezogen. Diese Menschen haben die Macht, uns zu einer anderen Welt hin zu verführen, und wir werden dabei in gewisser Hinsicht passiv zu all dem hingezogen. Das hat nichts mit Nachfolge zu tun. Die Menschen mögen der Meinung sein, das sei Nachfolge – so wie man einem Volkshelden nachfolgt –, aber das ist nicht die Art von Nachfolge, von der Jesus spricht.
Wir werden auch nicht dadurch Nachfolger, dass wir uns von Bewegungen anziehen lassen, und seien es gute. Ich werde oft gefragt: „Was bietest du derzeit an? Bist du als Berater tätig, machst du Urschrei-Therapie, Psychosynthese, außersinnliche Wahrnehmung, intellektuelle Analyse? Oder was sonst?“ Von diesen Bewegungen können wir etwas lernen und wir fühlen uns zu ihnen hingezogen, aber das, wovon das Evangelium spricht, ist etwas völlig anderes. Der Weg des geistlichen Lebens unterscheidet sich grundlegend davon, sich von der Verehrung irgendeines Helden „anziehen“ zu lassen oder sich einer recht guten Bewegung anzuschließen.
Es gibt ja alle möglichen Arten von interessanten Bewegungen: Heilungs-Bewegungen, therapeutische Bewegungen und so weiter. Ich habe mich vielen von ihnen schon einmal angeschlossen. Aber typisch für alle diese anderen Formen der Anhängerschaft ist, dass sie gewöhnlich auf „mich“ konzentriert sind. Wenn man von einer Heldenverehrung angezogen wird, merkt man, dass man sich nach einem Ersatz-Ich umsieht.
Ich habe mich einmal mit Freunden unterhalten, die vor Jahren zu einem Konzert der Beatles gegangen waren, und sie erzählten mir, wie leicht es da gewesen sei, seine eigene Identität an diese Jungs aus Liverpool zu verlieren. Meine Freunde wurden damals total mitgerissen. Sie waren nicht mehr hier, sondern sich selbst entrückt. Sie waren auf gewisse Weise mit der Musik und diesen jungen Leuten verschmolzen.
Wenn wir uns diesen Bewegungen anschließen, sind wir gewöhnlich auf eine innere Harmonie aus, auf die heilsame Lösung irgendeines Schmerzes. Wir erhoffen uns von dieser oder jener Bewegung mehr emotionale Ausgewogenheit oder ein neues innerliches Einssein.
Aber