Grundlagen der Funktionswerkstoffe für Studium und Praxis. Janko Auerswald
Werkstoffkunde. Zwischen Bindungsart und Struktur einerseits sowie den Eigenschaften andererseits bestehen Zusammenhänge. Die wichtigsten Gitterdefekte wie Fremdatome, Versetzungen, Korngrenzen und Ausscheidungen werden vorgestellt. Sie bewirken in Metallen einen Anstieg der Festigkeit. Fremdatome beeinflussen den spezifischen elektrischen Widerstand von Leitern und Halbleitern maßgeblich, Korngrenzen und Texturen hingegen verändern das Verhalten von Ferromagneten bei der Ummagnetisierung. Die Untersuchung und Charakterisierung der Materialien erfolgen in der Praxis oft mit Methoden, die im Kapitel Werkstoffprüfung behandelt werden. Im Zusammenhang mit Werkstoffen und Rohstoffen gewinnt in der globalisierten Wirtschaft die ökologische und soziale Nachhaltigkeit zunehmend an Bedeutung. Daher sei es gestattet, auch diesem schwierigen Thema ein paar Anregungen zum Nachdenken und Handeln zu widmen.
Die folgenden Kapitel sind den metallischen Funktionswerkstoffen gewidmet. Den Grundlagen der Legierungskunde folgt ein Einblick in das ungeliebte, aber in der Praxis äußerst wichtige Thema der Korrosion. Metalle und Legierungen kommen vor allem als Leiter, Widerstände und Kontaktwerkstoffe zum Einsatz.
Anschließend werden verschiedene andere Klassen von Funktionswerkstoffen und ihre praktischen Anwendungen näher betrachtet. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Halbleitern, Polymerhalbleitern, Magnetwerkstoffen, Dielektrika, Lichtwellenleitern und Werkstoffen für Transducer (,,Wandler“).
Die Entwicklung dieser Funktionswerkstoffe ist untrennbar verbunden mit der Entwicklung neuer mikrotechnologischer Fertigungsverfahren. Auch ihnen wird in diesem Buch Beachtung geschenkt. Eines dieser innovativen Produktionsverfahren, das in den letzten Jahren die Labore verlassen und in den Branchen der Hochtechnologie Einzug gehalten hat, ist der Ultrakurzpulslaser (UKP). Er ermöglicht die Bearbeitung praktisch aller Werkstoffe und Verbundwerkstoffe bis hin zum härtesten überhaupt, dem Diamanten. Er bringt in unvorstellbar kurzen Piko- oder Femtosekunden die Leistung eines Kraftwerks auf wenige Quadratmikrometer des Materials und erlaubt so eine ,,kalte“ Bearbeitung. Mit ihm werden die Touchscreen-Displays von Smartphones und Tablets ausgeschnitten. In der Augenchirurgie trennt er die Hornhaut auf, um Korrekturen oder Operationen an der Linse zu ermöglichen. In der optischen Datenfernübertragung sorgen Erbium-dotierte Faserlaser (EDFA) mit ihren ultrakurzen Pulsen für eine unvorstellbar schnelle optisch-optische Signalverstärkung in interkontinentalen Glasfaserkabeln.
Viele Studierende nehmen die Werkstoffkunde anfangs als sehr trockene Disziplin wahr. Dabei ist die Welt der Werkstoffe überaus faszinierend. Die profunde Kenntnis von Struktur und Eigenschaften ist ein wertvolles Gut für die Hightechbranchen Maschinenbau, Lasertechnik und Photonik, MedTech, erneuerbare Energien, Luft- und Raumfahrt, Präzisionsmechanik oder Mikro- und Nanotechnologie. In all diesen Bereichen haben neue Funktionswerkstoffe und die damit verbundenen innovativen Fertigungsverfahren die Grenzen des Machbaren verschoben. Andererseits lässt sich immenser Schaden für Menschen, Umwelt und Unternehmen abwenden, wenn das potentielle Versagen von Werkstoffen aufgrund von Beanspruchung oder Korrosion bereits in der Produktentwicklung berücksichtigt und verhindert werden kann. Die Werkstofftechnik ist zu einer Schlüsseltechnologie geworden. In diesem Sinne soll unser Buch bei angehenden Ingenieurinnen und Ingenieuren der verschiedensten Fachrichtungen das Interesse und vielleicht sogar die Begeisterung für das Thema Funktionswerkstoffe wecken.
Beeindruckende Beispiele für werkstoffwissenschaftliche Innovationen liefert Jahr für Jahr die Schweizer Uhrenindustrie. Stellvertretend genannt seien hier die verblüffenden elastisch biegsamen Spiralfedern aus glasartig sprödem Silizium, die den Takt einer mechanischen Uhr präzise vorgeben und ihre Gangreserve erhöhen. Das eigentlich weiche Gold verhält sich als Verbundwerkstoff fast so kratzfest und hart wie Diamant. Mit modernsten Verfahren werden Uhrengehäuse aus hochwertigem superaustenitischen Edelstahl, Titan, Carbon oder Keramik gefertigt. Im Dunkeln leuchtende Zeiger und Appliken und zuverlässige mechanische Uhrwerke haben dazu beigetragen, Tauchern und den Astronauten von Apollo 13 das Leben zu retten.
Die folgende Abbildung (Abb. 1) zeigt das patentierte Magische Zifferblatt der innovativen Uhrenmarke Révélation, das in enger Zusammenarbeit mit dem Schweizer Forschungszentrum CSEM entwickelt wurde. Das tiefschwarze Zifferblatt wird bei Drehung der Lünette wie durch Magie transparent und gibt den Blick ins Uhrwerk frei. Dahinter steckt ein ausgefeilter Mechanismus, dessen Kernstück zwei nanotechnologisch strukturierte Polarisatoren aus einem Verbundwerkstoff bilden. Diese wiederum lassen sich nur durch den kalten Strahl eines Ultrakurzpulslasers ausschneiden, ohne dass das hauchdünne spröde Glas zerspringt oder der darauf laminierte Kunststoff mit seinen filigranen Nanostrukturen zerschmilzt.
Abb. 1 Funktionsweise und Herstellung des Magischen Zifferblatts (© revelationwatches). Durch Drehen der Lünette wird das Uhrwerk unter dem tiefschwarzen Zifferblatt sichtbar. Das Kernstück hinter dieser Innovation sind nanotechnologisch strukturierte Polarisatoren aus einemVerbundwerk-stoff, die miteinemUltrakurzpulslaser ausgeschnitten werden. (Bildermitfreundlicher Genehmigung von Revelation (© revelationwatches))
So wie das Magische Zifferblatt den Blick in ein verborgenes Uhrwerk freigibt, so möge Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, dieses Buch das Eintauchen in die faszinierende Welt der Funktionswerkstoffe erleichtern und als Inspirationsquelle für zukünftige Ideen dienen.
Luzern, am 24.08.2021
Janko Auerswald und Pius Portmann
Danksagung
Als federführender Autor danke ich meinem Co-Autor Pius Portmann für seine wertvollen Beiträge und dem Team des Verlags Wiley-VCH für die großartige Unterstützung. Ein ganz besonderer Dank gilt meiner wunderbaren Familie, die während des Verfassens dieses Buches so manchen Abend auf mich verzichten musste.
Janko Auerswald
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Einführung und Grundlagen
Die Eigenschaften von Funktionswerkstoffen hängen eng mit ihrer chemischen Bindungsart und mit der atomaren oder molekularen Struktur zusammen. Daher liegt der Fokus zunächst auf den Bindungsarten und Strukturkonzepten von Metallen, Halbleitern, Keramiken und Polymeren. Aber auch die Begriffe der Tropie (Richtungsabhängigkeit der Eigenschaften), Polymorphie (Vielgestalt bzw. Wechsel der Kristallstruktur) und Phasen (homogenes und heterogene Gefüge) spielen für das Verständnis der Eigenschaften eine wichtige Rolle.
Werkstoffe werden aus Rohstoffen hergestellt. Deren Gewinnung, Handel, Verbrauch und Entsorgung stellen einen tiefen Eingriff in ökologische, ökonomische und soziale Systeme dar. Im Zeitalter von Globalisierung, Wirtschaftswachstum, übermäßigem Ressourcenverbrauch und Klimawandel ist es auch für die Werkstoffkunde an der Zeit, das Thema der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit in eine ganzheitliche Betrachtung aufzunehmen.
1.1 Bindungsarten
Die Art der chemischen Bindung zwischen den atomaren Bausteinen hat einen entscheidenden Einfluss auf die Eigenschaften von Funktionswerkstoffen. Eisenatome in metallischen Elektro- oder Stahlblechen tragen zur elektrischen Leitfähigkeit bei. Oxidkeramische Ferritmagneten hingegen enthalten Eisenionen und sind elektrische Isolatoren.
Die Metallbindung basiert auf einer Wolke frei beweglicher Außenelektronen. Sie umgibt die positiv geladenen Atomrümpfe des Kristallgitters und hält sie zusammen.
In einer Atombindung gehören gemeinsame Valenz-Elektronenpaare zu beiden Nachbaratomen zu gleichen Teilen, wenn die Bindung unpolar ist (z. B. in den reinen Halbleitern Silizium oder Diamant). Mit steigender Differenz der Elektronegativität beider Bindungspartner gehen die Valenz-Elektronen immer mehr zum