Öffentliches Wirtschaftsrecht. Stefan Storr
Wirtschaftsrechts
1. „Wirtschaftsordnung“ im Unions- und Verfassungsrecht
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Verwaltung und Verwaltungsrecht liegen „im Koordinatensystem von determinierender Verfassung und prägender Umwelt“[1]. Dies gilt in besonderer Weise für das Verhältnis von Staat und Wirtschaft[2]. Die Frage nach dem Gegenstand des öffentlichen Wirtschaftsrechts, also der Summe der staatsgerichteten Normen mit Wirtschaftsbezug, kann folglich nur vor dem Hintergrund dieser einerseits ökonomischen, andererseits verfassungs- und europarechtlichen Determinanten beantwortet werden. Sie sind gleichzeitig das Produkt einer historischen Entwicklung. Das Koordinatensystem hängt entscheidend davon ab, inwieweit Unions- oder Verfassungsrecht eine Wirtschaftsordnung vorgeben[3], die angesichts der Normenhierarchie sowohl den Gesetzgeber wie die Verwaltung binden, als auch unmittelbar die Normauslegung determinieren würde[4]. Beide haben allerdings bei näherer Betrachtung keine derartige „wirtschaftssystemkonstituierende Gesamtentscheidung“[5] getroffen.
a) Die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes
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Für das GG manifestierte sich dieser Standpunkt schon 1954 im sog. Investitionshilfe-Urteil des BVerfG[6]. Das BVerfG trat der damals in der Literatur insbesondere von Nipperdey[7] vertretenen These entgegen, das GG lasse nur eine Wirtschaftsordnung, die soziale Marktwirtschaft, zu und sah in der Frage nach der Wirtschaftsordnung keine (verfassungs-)rechtliche, sondern eine politische Entscheidung. Die derzeitige Wirtschaftsordnung sei „zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche. Sie beruht auf einer vom Willen des Gesetzgebers getragenen wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidung, die durch eine andere Entscheidung ersetzt oder durchbrochen werden kann“[8]. Mit dieser später wiederholt aufgegriffenen Formel von der wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes[9] ließ das BVerfG dem Gesetzgeber weitgehend freie Hand und ermöglichte den bisherigen Regierungen eine durchaus unterschiedliche Wirtschaftspolitik. Die „verfassungsrechtlichen Koordinaten“[10] schließen zwar extreme Wirtschaftsmodelle und vor allem eine Planwirtschaft nach kommunistischem Vorbild[11] aus, gewähren aber weite Spielräume und verlangen insbesondere keine Wirtschaftspolitik „aus einem Guss“[12]. Man kann diese Aussage gerade auch als bewusste Absage an ökonomische Theorien als Grundlage verfassungsgerichtlicher Beurteilung interpretieren[13]. Die entscheidende Aufgabe, so das BVerfG im Mitbestimmungs-Urteil[14], besteht darin, „die grundsätzliche Freiheit wirtschafts- und sozialpolitischer Gestaltung, die dem Gesetzgeber gewahrt bleiben muss, mit dem Freiheitsschutz zu vereinen, auf den der einzelne Bürger gerade auch dem Gesetzgeber gegenüber einen verfassungsrechtlichen Anspruch hat“. Auch mit einer ausdrücklichen Entscheidung für „eine“ soziale Marktwirtschaft, wie sie sich nicht nur im Einigungsvertrag, sondern auch in den Verfassungen von Rheinland-Pfalz (Art. 51 Verf. RP) und Thüringen (Art. 38 ThürVerf) findet (s. Rn 682), ist daher nicht viel gewonnen[15].
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Dies wird besonders deutlich an Fall 1 (Rn 1). Selbst eine Verstaatlichung von Unternehmen scheidet nicht von vornherein aus. Allerdings wird Art. 15 GG von der hM so verstanden, dass er sich auf industrielle Anlagen beschränkt, also eine Verstaatlichung von Banken oder Versicherungen nicht zuließe[16]. Andererseits schließen die Grundrechte eine Bedürfnisprüfung grundsätzlich aus (s. Rn 39, 121, 410) und nehmen daher auch der Genehmigungspflicht für die Aufnahme eines Gewerbes die ihr klassisch zukommende steuernde Funktion. Eine Beschränkung der Zahl der Banklizenzen wäre daher verfassungswidrig (s. aber die Anfänge des Regulierungsrechts, Rn 534). Innerhalb dieses Rahmens bleibt es aber zunächst einmal dem Gesetzgeber überlassen, inwieweit er stärker auf die Kräfte des Marktes oder stärker auf die staatliche Überwachung der Wirtschaft vertraut. Sowohl die Verschärfung der Aufsicht wie das Hinwirken auf Selbstverpflichtungserklärungen wären daher mit der Verfassung vereinbar.
b) Das offene Prinzip des Unionsrechts
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Für das Unionsrecht gilt nichts anderes. Der bisherige Art. 4 Abs. 1 EG-Vertrag forderte eine Wirtschaftspolitik, die „dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist“. Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 EUV, der an dessen Stelle trat, spricht nun von einer „in hohem Maße wettbewerbsfähige[n] soziale[n] Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt […]“ und scheint genauso wie die Formulierungen in den weiteren UAbs. und Abs. 5 eine Verschiebung hin zur sozialen Marktwirtschaft zu signalisieren. Dennoch bleibt die rechtliche Bedeutung der neuen Formulierung zweifelhaft[17]. Der EuGH hat es jedenfalls bisher ausdrücklich abgelehnt, diesen Grundsatz als rechtsverbindlichen Maßstab zu verstehen. Es seien „keine Bestimmungen, die den Mitgliedstaaten klare und unbedingte Verpflichtungen auferlegen, auf die sich die Einzelnen vor den nationalen Gerichten berufen können“. Es handele sich vielmehr „nur um einen Grundsatz, dessen Anwendung komplexe wirtschaftliche Beurteilungen fordert“, die jedenfalls nicht Sache der Rechtsprechung seien[18].
Trotz dieses eher präambelhaften Bekenntnisses zur Marktwirtschaft orientiert sich das Unionsrecht keinesfalls in allen Bereichen an diesem Modell, so dass nicht von „der“ europäischen Wirtschaftsordnung gesprochen werden kann[19]. Zentrale wirtschaftspolitische Felder (insbes Landwirtschaft, Fischerei und Verkehrswesen) wurden einer ungleich stärkeren Kontrolle und Lenkung durch die Unionsorgane unterworfen, um (vermeintliche oder tatsächliche) Existenzprobleme für die heimische Wirtschaft zu vermeiden. Die einzelnen Marktordnungen unterscheiden sich erheblich, vor allem am Agrarmarkt zeigen sich alle Vor- und Nachteile eines Marktordnungsmodells[20].
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Es bestätigt sich daher auch im Unionsrecht, dass sich „die“ Wirtschaftsordnung weniger in derartigen Formeln als in den konkreten Regelungen für die wirtschaftliche Tätigkeit zeigt. Dies gilt für die Marktfreiheiten (s. Rn 45 ff), aber insbesondere auch für die Vorschriften, welche die staatliche Einflussnahme auf den Wettbewerb begrenzen, sei es, dass die staatliche Subventionierung wirtschaftlicher Betätigung geregelt wird (s. Rn 897 ff), sei es, dass auch öffentliche Unternehmen in Art. 106 AEUV grundsätzlich den Regeln des Wettbewerbsrechts unterworfen werden (s. Rn 649 ff). Darüber hinaus hat das sekundäre Unionsrecht bereichsspezifische Entscheidungen für bestimmte Wirtschaftszweige geschaffen (zu Finanzmarkt, Telekommunikation und Energie s. unten Rn 495 ff). Wenn dabei beispielsweise die Privatisierung bisheriger Staatsmonopole durchgesetzt wird, hat dies größere Auswirkungen als die konkretisierungsbedürftige Grundsatzentscheidung für die Marktwirtschaft. Damit wurde der nationale „wirtschaftspolitische“ Spielraum immer mehr zu einem europäisch geprägten und schließlich gesamteuropäischen.
Der europäische Einfluss äußerte sich zunächst im Abbau nationaler Vorschriften (s. als besonders deutliches Beispiel das Handwerksrecht und dessen stark von Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit geprägte Entwicklung bis hin zur faktischen Aufgabe des Meisterzwanges durch die Handwerksnovelle 2004, dazu Rn 125, 147, 458), aber zunehmend auch in der