Crow Kingdom. Tino Falke
Vater begann, mir immer wieder die gleichen Geschichten zu erzählen. Meine Mutter begann, ihm jedes Mal, wenn er von der Toilette kam, dieselbe Frage zu stellen.
»Hagel oder Regen?«
Wie Bellmore glaubten sie, ihre Geheimsprache wäre clever, doch immer, wenn mein Vater »Hagel« antwortete, verließ meine Mutter den Raum. Das Geräusch der Spülung aus dem Bad bestätigte, was sich hinter dem Codewort verbarg.
»Kacke!«, rief eines der Mädchen auf dem Spielplatz, stieg von der Leiter und bewegte sich auf den Aufseher zu. Sie hatte sich am Holzgerüst der Schaukeln einen Splitter eingefangen. Während ihr Finger verarztet wurde, schnappte ich mir die Leiter. Schon bei der Ankunft war mir das Nest auf dem Baum neben der Rutsche aufgefallen, jetzt konnte ich die Gelegenheit nutzen, kurz reinzuschauen. Für manche Vogelarten war bereits Brutzeit. Der Neststandort ließ mehrere Möglichkeiten zu, was ich dort finden würde.
Himmelblaue Eier von früh brütenden Singdrosseln.
Grünliche Spatzeneier mit grauen oder braunen Punkten.
Auch im Park müssen wir hin und wieder auf Bäume klettern. Wir bringen Deko für Halloween oder Weihnachten an. Wir sammeln verlorene Luftballons ein oder machen Fotos für die Homepage. Natürlich muss ich jedes Mal daran denken, wie ich als Kind von dem Baum sprang. Erst später konnte ich wertschätzen, wie aufopferungsvoll sich meine Eltern damals um mich gekümmert hatten. Es tut mir leid, dass ich später nicht dasselbe für sie tun konnte.
Als sie starben, war ich seit fast zwei Monaten nicht zu Hause gewesen. In der Zwischenzeit hatten sie ihr Schlafzimmer geräumt, um mehr Buchungen zu ermöglichen. Sie selbst schliefen auf einem ausklappbaren Sofa, im Keller ihres eigenen Hauses. Sie hatten keine Fenster, aber ein kleines Bad und einen alten Gasofen.
Die Übernachtenden rochen nichts, als sie sich morgens zum Park aufmachten. Die nächste Gruppe fand nur verschlossene Türen vor, und schließlich rief jemand die Polizei. Wie sich herausstellte, war Kohlenmonoxid aus dem Ofen ausgetreten. Meine Eltern hatten die ganze Nacht über giftiges Gas eingeatmet.
Auf die gleiche Art ist auch Walt Disneys Mutter gestorben.
Die beiden lagen im Bett, Hand in Hand, offenbar friedlich eingeschlafen. Ich war nicht dabei, als sie gefunden wurden. Mein Handy lag in unserem Pausenraum. Privatgespräche während der Arbeitszeit sind verboten. Erst später bemerkte ich die vielen verpassten Anrufe, fuhr ins Krankenhaus einer Nachbarstadt und identifizierte die Leichen.
Ich kehrte in das alte Haus zurück und öffnete alle Fenster. Ich ging in den Kellerraum, in dem sie gestorben waren. Ich ging ins kleine Bad daneben und öffnete den Klodeckel.
Es gibt Fälle, in denen sich Neugier einfach nicht lohnt. Trotzdem kletterte ich auf dem Spielplatz im Wald die Leiter hoch. Langsam, leise, darauf bedacht, ja keine Jungtiere zu verschrecken, lugte ich über den Rand des Nests. Ich fand weder Eier noch Küken. Das Nest war voll mit bunten Strohhalmen und Armbändern. Ich zählte genug Münzen der Parkwährung, um sich ein T-Shirt kaufen zu können.
Entdecke die Wunder des Waldes.
Inzwischen bin ich eine weitere Leiter hinaufgestiegen und sehe mich auf dem Dachboden um. Das Seil in meiner Hand stammt aus Vincents Villa. In dem Geisterhaus liegen mehr als genug Seile und Kabel von früheren Dekorationen. Schluchzend knüpfe ich eine Schlinge und werfe sie über einen der Dachbalken. Neben der offenen Falltür mit der Leiter nach unten steht ein mitgebrachter Stuhl. Meine Tränen auf dem Sofa im Keller sind noch nicht getrocknet, da steige ich auf den Stuhl und lege den Kopf in die Schlinge.
Nachdem ich von dem verlassenen Nest zu den Spielgeräten zurückgekehrt war, machte ich mich wieder daran, die Wippe zu streichen. Wenn der Wind günstig stand, konnte ich dabei immer wieder Geräusche aus dem Park hören. Das Rattern der Achterbahnen, die Schreie, pausenlos Musik. Egal, was ich tue, der Park ist immer präsent und erinnert mich an alles, was ich seinetwegen durchmachen musste.
Corona Kingdom hat meine Eltern getötet.
Hätte Guðmundsson ahnen können, was aus seinen Büchern wachsen würde, er hätte sie vermutlich gar nicht erst geschrieben. Sein alter Naturlehrpfad ist zu überwuchert, als dass wir ihn hätten wieder aufbauen können. Ich bezweifle, dass der Fuchs sich noch einmal dem Spielplatz nähern wird. Und das einzige andere Tier, das ich zu Gesicht bekam, bevor wir unsere Arbeit beendet haben, war ein Rabe, vielleicht auch eine Krähe, schwarz mit bunten Flecken, mit einem Pommes im Schnabel.
Ich schließe die Augen und ziehe mein Haar aus der Schlinge. Mein Gesicht ist nass, von meiner Nase tropft es bis auf den Boden. Rotz und Tränen laufen über meine Lippen. Ich habe schon oft um die Toten geweint, die ich nicht zurückbringen kann. Heute ist es hoffentlich das letzte Mal.
Der Spielplatz im Wald befindet sich wieder in perfektem Zustand. Abgesandte von Lokalzeitungen haben Fotos vom Ergebnis unserer Arbeit gemacht. Doch es ist zu spät.
Von meinem Schluchzen abgesehen herrscht absolute Stille. Keine Schreie. Keine Musik.
Ich trete den Stuhl beiseite.
Und ich falle.
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